Das Errechnen der Seele

Frieden aus dem Zentralrechner: Der Animationsfilm „Appelseed“ aus Japan lehrt die Liebe zu den Maschinen

Alle zehn Minuten stellen sich angebliche Verbündete als Doppel- oder Dreifachagenten heraus

Das ist der Vorteil von Animationsfilmen: Sie müssen sich keine Budgetsorgen beim Zerstören von großen Gebäuden machen. „Appleseed“ macht davon ausgiebigen Gebrauch und präsentiert schon in den ersten zehn Minuten reichlich postapokalyptischen Häuserkampf zwischen Maschinen, die menschenähnlich aussehen, und Menschen, die vor lauter Hightech-Ausrüstung nur so um sich ballern.

Wir schreiben das Jahr 2131 – warum müssen Science-Fiction-Autoren immer so tun, als wüssten sie genau, wann ihre Geschichten stattfinden? Die gesamte Zivilisation auf der Erde liegt nach dem globalen Krieg in Schutt und Asche … Und weil wir uns außerdem in einem japanischen Anime befinden, wird die folgende Handlung ausschließlich von einem Personal ausgetragen, das durchtrainiert ist wie ein Spitzensportler auf Steroiden, losrasen kann wie ein Torpedo und dessen Gesichtsausdruck wahlweise entschlossen wirkt oder süß.

Wer die Katastrophe überstanden hat, hat sich in den Schutz einer riesigen, unangreifbaren Metropole geflüchtet, in der alles Leben voll automatisch programmiert wurde. Hier soll alles besser gemacht werden, dafür wird die Utopie von einem Zentralrechner gesteuert, der sämtliche Entscheidungen trifft und auf den Namen „Gaia“ hört. Neben Menschen wird diese perfekte Welt zur Hälfte von „Bioroiden“ bewohnt, geklonte Stützen der Gesellschaft, die als emotionsarme Puffer zwischen den Leuten wirken sollen, die sich sonst, so das Kalkül, in ihrer üblichen menschlichen Gereiztheit wieder gegenseitig an die Kehlen gingen. So eine Art Dauersedativum in humanoider Form.

Wie jeder Plan hat auch dieser einen Haken: Weil sie zu perfekt geraten sind, sind manche Menschen neidisch geworden und legen sich jetzt mit den dauerfreundlichen Androiden an. Es gärt also einiges im Staate Utopia, und die Hauptfigur, eine Elitesoldatin mit einem Cyborg-Hasen als Beschützer an ihrer Seite, muss erst mal jede Menge politische Ränkespiele auslüften, die Schatten ihrer eigenen Vergangenheit klären und von diversen Gebäuden springen, bevor sie sich um das Schicksal der echten und der Kunstmenschen kümmern kann.

Shinji Aramaki hat einen Manga von Masamune Shirow verfilmt. Der Comicautor von „Ghost in the Shell“ hat schon in der bereits 1985 erschienenen „Appleseed“-Serie seine Lieblingsthemen verarbeitet: Können Automaten doch eine Seele haben? Müssen wir uns nicht langfristig auf eine friedliche Koexistenz mit eigenständig handelnden Maschinen einstellen? Dass der Versuch, die Handlungsstränge einer mehrere tausend Seiten starken Comicreihe in einem abendfüllenden Spielfilm zu komprimieren, zu verwirrenden Sprüngen führen muss, war zu erwarten.

Alle fünf Minuten nimmt der Plot eine neue Richtung, alle zehn Minuten stellen sich angebliche Verbündete als Doppel- oder Dreifachagenten heraus. „Appleseed“ ist Zukunftsvision in doppeltem Sinn: Er ist der erste zu hundert Prozent am Rechner entstandene Anime, man muss hinzufügen: nach einer Manga-Vorlage. Denn es gibt bereits „Final Fantasy“, aber der war nach einem Computerspiel. Was die meisten Anime, und dieser hier ganz bestimmt, ziemlich bis verdammt gut können, ist, Dinge vor meist atemberaubend futuristischen Schauplätzen in Bewegung zu versetzen.

Ein Augenschmaus ist der Film allemal. Woran es noch mangelt, ist vor allem glaubwürdige Mimik – vor allem im Vergleich mit dem eben angelaufenen „Wandelnden Schloss“ von Hayao Miyazaki wirken die Figurenzeichnungen arg steril. Aber selbst Miyazaki, so was wie der letzte Vertreter des handgemalten Zeichentricks, hat für seinen neuesten Film teilweise CGI-Bilder verwenden müssen. In den amerikanischen Studios haben Nemo, Shrek & Co. längst den Abschied vom Zeichenstift eingeläutet und nebenbei bewiesen, dass der Rechnereinsatz nicht auf Kosten des Erzählens mitreißender Geschichten gehen muss. Der Erfolg der mit Oscars überschütteten Pixar- und Dreamworks-Produkte hat nun auch in den Disney-Studios den Wechsel von 2 D zu 3 D befördert. Der vor einem Jahr angelaufene „Die Kühe sind los“ war der letzte Trickfilm nach klassischer Art. Voraussichtlich im Januar wird mit „Himmel und Huhn“ Disneys erster, vollständig am Rechner entstandener Trickfilm in den Kinos starten.

DIETMAR KAMMERER

„Appleseed“. Regie: Shinji Aramaki. Japan 2004, 108 Min.