: „Die Sprache war befreit“
ANNETT GRÖSCHNER brachte die Frauen auf die Straße
„Ich war zu dem Zeitpunkt Teil einer Frauengruppe. Auf einem Flugblatt, das wir in der Nacht zuvor geschrieben hatten, stand sowas wie ‚Die Frau gehört ins Rathaus‘. Ich weiß noch, wie ich die Blätter verteilt habe, und ein Mann sagte zu mir: ‚Jetzt wollen die Weiber ooch noch was.‘ Frauenfragen waren zweitrangig, unsere Forderungen kamen nicht so gut an.
An der Mollstraße waren zehn buddhistische Mönche, ich weiß nicht, wo die herkamen. Die hatten ihre orangenen Gewänder an, das sah ich zum ersten Mal. Ich glaube, es war dieses Orange, was in mir die Erinnerung an schönes Wetter an diesem Tag hinterlassen hat. Eigentlich war es ja grau. Von der Mollstraße hat man uns am Palast und dann links rumgeschickt, wir sollten nicht zur Mauer laufen. Das wäre ja fatal gewesen. Bis ich auf dem Alex ankam, waren Stunden vergangen, ich habe kein Zeitgefühl mehr von dem Tag.
Von den Rednern kann ich mich am besten an die erinnern, die wir ausgebuht haben. Also Günter Schabowski und Markus Wolf. Die Sprache war es, die mich am meisten beeindruckte an dem Tag: Diese befreite, ironische und entspannte Sprache hat mich glücklich gemacht. Man konnte dauernd lachen. Diese Sprache war danach auch sofort wieder weg. Und die Ironie hat mich erstaunt. Also nicht meine eigene, aber dass so viele plötzlich ironisch waren. Ich war hin und weg davon. PROTOKOLL: BOE
Annett Gröschner
1964 geboren. Von 1983 bis 1991 studierte sie Germanistik in Ostberlin und Paris. 1990 Mitbegründerin der Frauenzeitschrift Ypsilon.