: Ein schwäbischer Karl Kraus
Ein Verleger und Journalist wie Erich Schairer ist heute kaum denkbar. Sein Credo lautete: Kampf gegen Kirche, Kapitalismus, für Gemeinwirtschaft und Gerechtigkeit. Anfang 1937 verhängten die Nazis ein Berufsverbot über ihn, 1946 wurde er Mitherausgeber der „Stuttgarter Zeitung“. Am 21. Oktober wäre er 125 Jahre alt geworden
von Kurt Oesterle
Seine Karriere beginnt mit einer ominösen „weißen Lücke“: Ende 1919 ist Dr. Erich Schairer Chefredakteur der Heilbronner Neckar-Zeitung, als Nachfolger seines Freundes Theodor Heuss. Seit Längerem schwelen Widersprüche zwischen Schairer und seinem Verleger. In einem Artikel zum ersten Jahrestag der Novemberrevolution schreibt Schairer, man habe in Deutschland inzwischen eine passable Demokratie, bei der Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit sei man jedoch über einen „taumelnden Beginn“ nicht hinausgekommen. Im liberalen Heilbronn geht darauf das Gespenst der Sozialisierung um. Schairer legt nach, indem er gegen die „Dolchstoßlegende“ der Rechten polemisiert – dieser Artikel erscheint nicht mehr, der Verleger unterdrückt ihn. Schairer fügt sich. Das Blatt erscheint mit einer Leerstelle auf der Eins; weithin sichtbar: ein Kainsmal der Zensur. Für Schairer ist dies die Reifeprüfung, die wahren Machtverhältnisse in der jungen Republik haben sich zu erkennen gegeben, er kann nur abtreten.
Drei Tage soll er daheim Holz gehackt haben, ein harter Winter stand bevor, in jeder Hinsicht. Schairer beschloss, eine eigene Zeitung in die Welt zu setzen. Die Stunde schien günstig, überall war Neubeginn, Aufbruch, Wunsch nach Veränderung. Die demokratische Republik brauchte publizistischen Geleitschutz. Und Erich Schairer bot ihr einen: die Sonntags-Zeitung. Kritisch, rebellisch, ein Presse-Experiment. Am 4. Januar 1920 erschien sie erstmalig, vierseitig, im Berliner Format, in 1000er-Auflage und zum Preis von 25 Pfennig. Ein hochpolitisches Unternehmen, aber auch ein Akt zur Wiederherstellung der Würde eines zensierten Journalisten.
Die Weimarer Republik brachte ihren eigenen Typus des Journalisten hervor – politisch und literarisch, analytisch und ironisch. Das Mischungsverhältnis dieser vier Temperamente war freilich individuell ausgeprägt, wie sehr, lässt sich an Autoren wie Carl von Ossietzky, Kurt Tucholsky oder Theodor Wolff studieren. Oder an dem heute fast vergessenen Zeitungsmacher Erich Schairer, der von 1887 bis 1956 lebte und den drei genannten Großen einzig und allein darin nachsteht, dass er nicht zu den vorrangig wahrgenommenen Hauptstadtjournalisten zählte, sondern in der Provinz agierte.
Ein „Gratgänger“ und „schöpferischer Rebell“
Lakonisch, schockartig, provokant, auch poetisch – das waren Schairers Register. Nach dem Abwurf der Atombombe in Japan schrieb er von den „Vermissten, die zu Atomen zerblasen sind …“ Durch Journalisten wie ihn erhielt das Zeitungswesen nach 1945 eine Wurzel in der reichen, hoch entwickelten demokratischen Presselandschaft der ersten deutschen Republik. „Gratgänger“, „schöpferischer Rebell“, „geborener Journalist“, so wird er in der wenigen Literatur zu seinem Leben und Werk genannt (immer noch sehr empfehlenswert Will Schabers kundiges Porträt). Diese Legenden entstanden gleichzeitig mit der Weimarer Republik, in deren Verlauf Schairer zum populärsten Zeitungsmann Süddeutschlands wurde.
Erich Schairer wurde am 21. Oktober 1887 in Hemmingen, Oberamt Leonberg, geboren. Dem pietistisch erzogenen Lehrersohn ist ein altbekannter Weg vorgezeichnet: vom Blaubeurer Seminar übers Tübinger Stift ins württembergische Pfarramt. 1905 zog Schairer nach Tübingen und betätigte sich als „Gazettier“ in der Bundeszeitung seiner Verbindung „Roigel“, schloss brav sein Studium ab und wurde 1909 Pfarrgehilfe in seiner Heimatstadt. Fast hätte es ihn als Vikar ins nähere Lustnau verschlagen, doch umgehend schrieb er ans Konsistorium: „Meine Versetzung nach Lustnau bitte ich rückgängig zu machen, da kennt man mich.“ Knapp, trocken, unverblümt – das sollte auch den späteren Zeitungsstilisten auszeichnen. 1911 bittet er um seine Entlassung. Das Pfarrhaus scheint ihm nicht der richtige Ort, den Zeitgeist umzumodeln, und fast wundert er sich, für diese Erkenntnis so lange gebraucht zu haben.
Eine Weile pendelt Schairer zwischen Politik und Journalismus; beides könnte für den Ausdrucksmenschen – er ist auch ein leidenschaftlicher Debattierer – das geeignete Berufsfeld sein. 1912 nimmt er beim Reutlinger Generalanzeiger seine erste Redakteursstelle an.
Eine Prise Politik beim Liberalenführer Naumann
Jetzt ist er angekommen: „Druckerschwärze riech ich gern. Eine Doppelrotationsmaschine ist etwas Herrliches! Dabei bleiben wir.“ Bedeutungslos, dass er nachher als Privatsekretär des Liberalenführers Friedrich Naumann eine Prise Politik zu sich nimmt – im Journalismus hat er seine Passion gefunden.
Als noch im selben Jahr der Erste Weltkrieg begann, sollte sich zeigen, wie sehr Schairer dennoch ein Kind seiner Zeit war. Er jubelte hurrapatriotisch, wenn auch nur in mittlerer Lautstärke. Als Autor und Organisator hatte er mit der kaiserlichen Orientpolitik zu tun, der „Deutsch-Türkischen Vereinigung“ dient er ein paar Jahre als Geschäftsführer. Doch seltsam: Schairer verstand sich auch in dieser Zeit als Sozialist und Demokrat. Und nach Kriegsende blieb er im Naumann'schen Sinn ein Sozialreformer, nur der nationalen machtpolitischen Option schwor er ab.
Schairer wurde vom Expansionisten zum Pazifisten, vom Burgfriedensdemokraten zum linken, basisdemokratischen Republikaner. En grundstürzender Wandel, wie so mancher in dieser Zeit, nur dass Schairer ihn besonders schnell und radikal vollzog.
Diese Radikalität war vielleicht ein Ergebnis seiner pietistischen, streng auf Selbstverpflichtung ausgerichteten Erziehung; man meint etwas davon zu spüren, wenn Schairer über den politischen Menschen dieser Zeit spekuliert, der der kaum errichteten Republik so sehr nottue und den der früh ermordete Sozialist Kurt Eisner für ihn verkörperte: „Unsere Tragik“, heißt es in der Sonntags-Zeitung Anfang 1925, „wir haben zwar charaktervolle Männer, aber sie sind keine Politiker. Und wir haben Politiker, aber mit zu wenig Charakter. Die richtige Legierung fehlt.“
Schairers Organ, die Sonntags-Zeitung, die zuerst in Heilbronn, später im urbaneren, besser vernetzten Stuttgart erschien, hatte stets einen ausgesprochen wirtschaftspolitischen Akzent. Darin unterschied sie sich von linken Intelligenzblättern wie Weltbühne, Aktion oder Sturm, deren Hauptsteckenpferde nun mal Kultur und Politik waren.
Schairer wollte gerechte Löhne und Mitbestimmung
Schairer schrieb für das Allgemeinwohl, für gerechte Löhne und Preise, Sozialisierung von Rohstoffen und Großindustrie, für ein Betriebsverfassungsgesetz und Mitbestimmung. Die kleinen Leute waren ihm lieb und wert. Mit Lesern aller Klassen hielt Schairer andauernd Kontakt, zu seinen freien Mitarbeitern zählten neben Hermann Hesse, Maxim Gorki sowie dem großartigen Karikaturisten Hans Gerner auch Marktfrauen, Handwerker und Bauern, die er oft zu sich einlud – nirgends ist in den zwanziger Jahren der Netzwerkgedanke im Journalismus so stark ausgeprägt wie in der Sonntags-Zeitung. Freigeister ebenso wie Pfarrer lasen ihren Schairer, auch wenn er seinem Blatt hin und wieder Kirchenaustrittsformulare beilegte.
Die Auflage der Wochenzeitung kletterte von 2000 in zwölf Jahren auf das Vierfache. 1933 gingen rund zwei Drittel der Auflage nach Norddeutschland – Hamburg und Leipzig, Köln und Magdeburg hießen die Hauptorte des unverkennbar süddeutschen Blattes; auch in Skandinavien, sogar in den USA wurde die inseratfreie Zeitung vertrieben – nur in Bayern: Fehlanzeige.
Aus der sicheren Schweiz zurück ins Nazideutschland
Schairers Wochenblatt wollte ein kritisch-realistisches Zeitbild entwerfen, neben seinen ökonomischen Dauerthemen mit Artikeln zu den Weimarer Pathologien Militarismus, Antisemitismus, aufkommendes Nazitum. 1931 ließ Schairer sich verführen, die Chefredaktion der St. Galler Volksstimme zu übernehmen und sein eigenes Blatt zu verkaufen, wenn auch mit vertraglich garantiertem Rückkaufrecht. Zum Entsetzen seiner Familie machte er schon bald davon Gebrauch und zog aus der sicheren Schweiz wieder ins unsichere Deutschland: Die Arbeit seiner Nachfolger hatte ihm missfallen, mit linkem Kinderkram und KPD-Sprüchen, meinte er, könne man Hitler nicht bezwingen.
Das aber schaffte auch dieser journalistische Sisyphos nicht, obgleich die Sonntags-Zeitung sich nach 1933 mit einem unangepassten Schlingerkurs noch eine Weile halten konnte. Viele Mitarbeiter mussten bald fliehen, andere kamen in KZs und Zuchthäuser. Schairer selbst erhielt oft Gestapobesuch, immer wieder mal wurde das Blatt verboten – und wenn es herauskam, dann statt mit Schairers Namen nur mit XXX. Bisweilen verzichtete er – gewieft im Umgang mit der Zensur – ganz auf Artikel und stellte nur sprechende Klassikerzitate ins Blatt. Als die Nazis ihm frech einen Chefredakteursposten anboten, schrieb er zurück: „Vielen Dank für Obst und Südfrüchte!“ – was natürlich eine Absage war.
Schließlich wurde die Sonntags-Zeitung 1936 verboten; Schairer kam als Weinreisender und Reichsbahngehilfe über die Runden – 1945 fand sich nicht der kleinste braune Spritzer an seiner Jacke.
In Tübingen sitzt er in der Chefredaktion
Anfang 1946 fuhr Erich Schairer, 59, nach Tübingen, um seine Stelle als führendes Mitglied des „Tagblatts“ anzutreten. Lieber wäre ihm freilich, die Stuttgarter Militärregierung entschiede endlich über die Lizenzvergabe für die Sonntags-Zeitung – aber da tut sich nichts. Auch in Lindau, seinem letzten Wohnort, hätte Schairer sich an einer Zeitungsgründung beteiligen können, doch schließlich hat er den Tübingern zugesagt, um nicht „zwischen zwei Stühle hinunterzusitzen“ oder „drei Bräute zu heiraten“, wie seine Tochter, die Journalistin Agathe Kunze, mir einmal erzählte.
Schairer kannte Tübingen, hier hatte er studiert, der Verbindung „Roigel“ angehört und, schwäbisch-sturschädelig, in der Philosophenfakultät – bis heute einzigartig – ein publizistikgeschichtliches Doktorthema durchgesetzt: „Schubart als politischer Journalist“, sein Leib- und Magenthema.
Sein erster Leitartikel steht am 16. Januar 1946 im Blatt; gedanklich, somit auch sprachlich klar, ging er ans Werk, das überall das gleiche war: Wiederaufbau, moralisch, politisch, materiell. „Wehe uns, wenn das Jahrtausend des Herrn Hitler länger als zwölf Jahre gedauert hätte“, schreibt er, der 1932 alles riskiert und viel verloren hatte im Kampf für Freiheit und Republik. Oder, ganz in der Tradition der ihm so lieben Achtundvierziger: „Auch dieses Volk wird es einmal lernen, sich selber zu regieren.“ Um die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dürften allerdings nie mehr die Eliten zur Macht gelangen, die beim Aufstieg Hitlers so schändlich versagt hätten. Gerecht müsse es zugehen beim Wiederaufbau, „auch wenn alte Eigentumsbegriffe dabei ein wenig ins Wanken geraten“.
Gemeinwirtschaftlich den Kapitalismus überwinden
Dieser Gedanke entsprach der gemeinwirtschaftlichen Idee, die Schairer seit dem Ersten Weltkrieg vertrat – mit ihr wollte er den Kapitalismus überwinden, allerdings ohne dessen liberale Gesellschaftsvorstellung aufzugeben. Schairer war keine Stunde Kommunist, sondern viel eher ein idealistisch angehauchter demokratischer Sozialist. Das zeigt sich auch in jenem Tübinger Kommentar, in dem er für die Zukunft eine „überparteiliche politische Presse“ fordert und sich gegen die unpolitische Generalanzeiger-Presse mit ihren „Inseratenplantagen“ wendet.
Elf Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs starb er, 68-jährig, inzwischen wohl bestallter Mitherausgeber der Stuttgarter Zeitung. Er hatte an alles gedacht, selbst an „Vorschuss für Nachruf“. Mit den Gewinnen, die ihm die Stuttgarter Zeitung eingebracht hatte, gründete er noch ein Journalistenhilfswerk, das bis heute tätig ist. Als nächstes bei der Verleihung des Erich-Schairer-Preises an junge Journalisten am 6. November diesen Jahres. Als er todkrank nicht mehr umhinkonnte, eine der ihm verhassten Kliniken aufzusuchen, soll er geflachst haben: „Wer sich in ein Krankenhaus begibt, kommt darin um.“ Auch diesmal behielt er recht.