: Das Schweinesystem
KREATUREN Harry S. Truman hat es gesagt: „Präsident sollte nur jemand werden, der auch Schweine versteht!“ Hier eine kleine Handreichung
VON HELMUT HÖGE
Der westdeutsche Ökologe und Tierfilmer Horst Stern hat einmal gesagt: „So sind sie, die Ethologen. Die Südsee ist ihnen nicht tief genug, kein Urwald ist ihnen dicht genug und gefährlich genug. Aber in einen Saustall, da bringt sie niemand hinein.“
Trotz einer Schwemme von „Tierstudien“ gilt dies auch heute noch – für Schweine. Immerhin wagen sich gelegentlich engagierte Tierschützer in die Schweineställe, indem sie nächtens dort einbrechen und die traurigen Lebensbedingungen der Tiere dokumentieren, oder die Ställe gar in Brand stecken.
In der mit 8.000 Schweinen noch relativ kleinen Anlage der LPG Florian Geyer, Saarmund, wo ich einst arbeitete, war es laut, heiß und stinkend. Regelmäßig musste der Tierarzt irgendeinem Tier Antibiotika spritzen. Ebenso regelmäßig rückte der Desinfektor an. Jeden Morgen musste man ein oder zwei tote Tiere rauskarren und eigentlich waren alle froh, als eine winzige Dorfinitiative, angeführt von der Gemeindeschwester, eine Demonstration mit etwa zwanzig Leuten vor dem Tor organisierte. Daraufhin ordnete die Kreisverwaltung in Potsdam die sofortige Schließung der Schweinemast an, fünfzehn Leute verloren ihre Arbeit. Damals, im Februar 1990, konnte sich niemand vorstellen, dass sie vielleicht nie wieder eine neue Anstellung finden.
2006 fand im Schloss Neuhardenberg eine Ausstellung über Schweine statt, in der es um eine ebenfalls nach der Wende abgewickelte Mastanlage ging, in der 800 Beschäftigte 146.000 Tiere jährlich „fett machten“. Dort – im uckermärkischen Haßleben – plant der holländische Investor Harry van Gennip seit 2004 eine neue Anlage – für 67.000 Schweine. Er betrieb bereits seit 1994 eine für 65.000 Schweine ausgelegte Anlage im altmärkischen Sandbeiendorf. Einer seiner Berater, Helmut Rehhahn, war früher SPD-Landwirtschaftsminister in Sachsen-Anhalt und noch früher Leiter einer Bullenprüfstation in der DDR. „Haßleben“, sagt er, „das kommt.“ Um den Bau dieser Fleischfabrik – für inzwischen „nur“ noch 37.000 Schweine – wird jedoch unermüdlich vor Ort gestritten. Auf der einen Seite der Investor mit einer „Pro-Schwein-Haßleben“-Bürgerinitiative, auf der anderen Seite eine „Kontra-Industrieschwein-Haßleben“-Bürgerinitiative und der Deutsche Tierschutzbund. Die Bild-Zeitung spricht von einem „Schweinekrieg“.
Der findet nicht nur in Haßleben statt, denn in Ostdeutschland errichteten und errichten viele Investoren riesige Schweinemastanlagen. Einer verriet freimütig, warum: „Zu Hause in Holland wirst du als Schweinezüchter ständig wie ein Krimineller behandelt.“
Diese Großprojekte für Tierzucht, Mast und Schlachtung stoßen jedoch auch hier auf immer mehr Protest. Im Altmark-Dorf Cobbel gibt es eine Bürgerinitiative gegen eine dort ebenfalls von Harry van Gennip geplante Mastanlage auf einem ehemaligen sowjetischen Flugplatz für 97.000 Ferkel. Eine solche Tierfabrik belastet die Umwelt. In einem wertvollen Naturschutzgebiet wird Wald mit Ammoniak verseucht. Der Grundwasserspiegel sinkt, und der Boden wird sauer, argumentieren die Gegner.
Ähnlich argumentieren auch Tierschützer in Haßleben. In einer Stellungnahme des für die Genehmigung der dortigen Schweinemastanlage zuständigen Ministeriums in Potsdam hieß es zuletzt am 18. April 2012: „Der Investor will dem Antrag zufolge die Anzahl der Schweinemastplätze von 35.200 auf 4.400 reduzieren.“ Wohlgemerkt: Ursprünglich handelte es sich um 67.000 Tierstellplätze. Das für das Genehmigungsverfahren zuständige Landesamt muss nun die geänderten Antragsunterlagen erneut prüfen.
Im Mai 2012 hatte das Bundeskabinett eine Novellierung des Tierschutzgesetzes beschlossen, das nun neben dem Wildtierverbot für Zirkusunternehmen auch Restriktionen bei der Massentierhaltung beinhaltet: etwa den „Ausstieg aus der betäubungslosen Ferkelkastration zum 1. Januar 2017“, wie agrarheute schreibt. Außerdem muss der Tierhalter seine Schweine fürderhin „angemessen ernähren, pflegen und verhaltensgerecht unterbringen“, dazu gehört eine „Förderung des Erkundungsverhaltens der Schweine, die jederzeit Zugang zu veränderbarem Beschäftigungsmaterial haben müssen, das von ihnen untersucht und bewegt werden kann“. Also müssen die Mäster nicht nur für verhaltensgerechte Aufzucht, sondern auch für die Unterhaltung der Tiere sorgen, wie das niedersächsische Amt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit erklärt. Nicht nur emsländische Schweinebauern klagen, dass es noch kein brauchbares „Spielzeug für Schweine“ auf dem Markt gebe. Einige behelfen sich einstweilen mit Holzscheiten, die sie an Ketten in die Ställe hängen – als eine Art Kauknochen.
Der Kurator der Ausstellung „Arme Schweine“, Thomas Macho, Kulturwissenschaftler an der Humboldt-Universität, argumentiert grundsätzlicher: Jene Tiere, die seit Jahrtausenden mit den Menschen lebten und arbeiteten, nämlich die Haustiere, seien aus allen konkreten Lebens- und Arbeitskontexten der Moderne verdrängt worden. Rinder wurden durch Traktoren ersetzt, Ziegen- und Schafwolle durch synthetische Kleidung. Die Kavallerie wurde gegen Panzerdivisionen ausgetauscht, Kutschen wichen den Autos und Eisenbahnen, Lasttiere den Kränen und Baggern, Brieftauben den Computern und Telefonen. Wollten wir die Grundtendenz des Modernisierungsprozesses in gebotener Knappheit erfassen, so müssten wir sie als progressive Eliminierung der Haustiere durch Maschinen beschreiben. Diese gesellschaftliche Verdrängung der Haustiere reduzierte die Tiere schlagartig auf eine einzige Funktion: die des Massenschlachtviehs.
Schweine waren schon immer zum Schlachten da. Sie lebten jedoch länger, und es wurde alles, einschließlich der Innereien, verwendet. Heute sind Schweine in einem Alter von etwa einem halben Jahr und mit rund 110 Kilogramm Gewicht schlachtreif. Und es wird sowohl in der Schweine- als auch in der Tierfutterforschung ununterbrochen versucht, die Fleischproduktion noch effektiver zu machen. Laut Statistischem Bundesamt wurden 2008 genau 26.380.900 Schweine in 66.400 Betrieben in Deutschland gehalten. Derzeit gibt es wieder eine preisdrückende Überproduktion, die bisher jedoch stets eine vorübergehende war: „Schweinezyklus“ genannt.
In der Schweiz, wo man vor einigen Jahren das am weitesten reichende Tierschutzgesetz verabschiedete, macht sich etwa der „Zürcher Tierschutz“ dafür stark, deutsches Schweinefleisch zu boykottieren: Zehn Millionen Kilo Schweinefleisch werden aus Deutschland und Italien importiert. Aus Ländern, die Schweine einpferchen, Ferkel ohne Betäubung kastrieren. All dies ist zu Recht in der Schweiz verboten. „Die Tatsache, dass Großverteiler, Gastromärkte, Caterer und Fleischverarbeiter nach wie vor Schweinefleisch aus tierquälerischer Haltung importieren und verkaufen, widerspiegelt unserer Ansicht nach einen bedenklich tiefen ethischen Standard.“
Diesen haben die deutschen Tierschützer auch in den Schlachthöfen ausgemacht. 2011 wurden in 5.100 zugelassenen Betrieben fast 60 Millionen Schweine geschlachtet. 750 Schweine pro Stunde und Betrieb: „Darunter leidet der Tierschutz“, wie das Handelsblatt am 21. Juni 2012 schrieb: „Die Tiere werden automatisch betäubt, zum fachgerechten Töten per ‚Entblutestich‘ sind dann etwa fünf Sekunden Zeit. 12,5 Prozent der Tiere seien jedoch nicht richtig betäubt. Die Grünen fordern härtere Regeln, die Branche wehrt sich.“
Die letzten Aporien des Schweinesystems kommen von österreichischen und taiwanesischen Wissenschaftlern: Im Ötztal wurden bei einem Tierversuch 29 Schweine lebendig unter einer Lawine begraben. Diese Lawine wird simuliert, um durch die toten Schweine mehr Aufschlüsse über die Todesumstände von Lawinenopfern gewinnen zu können.
Taiwanesische Forscher wiederum haben drei fluoreszierende Schweine gezüchtet, die im Dunkeln grün leuchten. Dafür sei in den Zellkern eines Schweineembryos ein fluoreszierendes Protein injiziert worden, das aus Quallen gewonnen worden sei, erklärte Wu Shinn Chih von der Nationalen Universität Taiwans. Damit sei ein „wichtiger Fortschritt“ bei der Stammzellforschung gelungen, weil Schweine Tiere seien, die dem Menschen besonders nahe sind.