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Archiv-Artikel

Immer wieder abgestraft

Bei dem Prozess um die Tötung einer Lehrerin vor dem Lübecker Landgericht werden die Hintergründe der Tat sichtbar: ein rigides, von der Schulkonferenz beschlossenes Strafsystem

Aus Lübeck Elke Spanner

Bis zu ihrem Tod hat keiner der Kollegen Isolde F. je ungerecht erlebt. Erst nachdem sie im Januar umgebracht wurde, grausam mit Messerstichen in Rumpf und Hals, haben Geschichten über sie in der Ahrensburger Realschule die Runde gemacht. Jetzt gilt es, diese vor dem Lübecker Landgericht wiederzugeben, ohne die geschätzte Deutsch- und Kunstlehrerin im nachhinein in den Schmutz zu ziehen. Die Kollegen tun sich schwer damit. „Sie hat alle Regeln einhalten lassen, da gab es keinen Diskussionsspielraum“, umschreibt der Geschichtslehrer der Klasse 10 c vorsichtig ihre Strenge, und fasst zusammen: „Sie war von altem Schrot und Korn.“

Das Problem liegt nicht allein darin, ein schweres Verbrechen erklärbar zu machen, ohne die Pietät des Opfers zu verletzen. Es ist auch in der Person des Täters begründet: Ehe Alex O. zusammen mit seinem älteren Bruder Vitali die grausame Tat beging, gab es über ihn viel Gutes zu berichten. Freundlich, hilfsbereit, stets ausgeglichen und gut integriert sind die Attribute, die Mitschüler und Lehrer für den 18-Jährigen finden.

Je länger das Verfahren vor der Jugendkammer des Lübecker Gerichtes andauert, desto offensichtlicher wird, dass die Rollenverteilung zwischen Täter und Opfer in der 10c der Heimgarten-Realschule immer wieder fließend war, ehe die blutige Nacht dem Konflikt ein Ende setzte.

Dass Alex. O seine Lehrerin zusammen mit seinem Bruder getötet hat, steht fest. Vitali O. hat gestanden, das Messer geführt zu haben, als sie an jenem Sonntagabend die Wohnung von Isolde F. aufsuchten. Er sagte, sie hätten der Schikane durch die Lehrerin ein Ende setzen und diese einschüchtern wollen. Dann sei die Situation vor ihrer Wohnungstür eskaliert. Die Staatsanwaltschaft hat die beiden wegen Mordes angeklagt.

Die Regeln, auf deren Einhaltung Isolde F. in ihrer Klasse pochte, hatte eine Schulkonferenz vorgegeben: Jedes Vergehen eines Schülers, hatte das paritätisch mit Eltern, Lehrern und Schülern besetzte Gremium festgelegt, wird mit der Note sechs bestraft. Nach diesem Beschluss hagelte es in der 10c Rauswürfe und schlechte Noten, und auch Alex O. stand immer wieder abgestraft vor dem Klassenraum. Sein Chemielehrer bestätigte gestern, dass es über das rigide Strafsystem unter den Kollegen viele Diskussionen gab.

Isolde F. hat die Regeln konsequent angewandt. Allen Lehrern und Schülern der Klasse ist inzwischen eine Situation zu Ohren gekommen, die als Schlüsselszene für den Konflikt zwischen dem angeklagten Deutschrussen und der 51-Jährigen gilt: Alex O. hatte für eine Klausur die Textvorlage vergessen. Er flog raus, Note sechs. Aber auch Christoph B. hatte die Vorlage nicht dabei – und durfte die Arbeit trotzdem mitschreiben, wie er gestern bestätigte. Ob die Schüler gegen diese Ungerechtigkeit nicht aufbegehrt hätten, erkundigte sich die beisitzende Richterin. Nein, räumte der 16-Jährige ein: „Man kann in der Schule nicht alles sagen, was man denkt.“

Weil ihm eine Fünf in Deutsch drohte, fürchtete Alex O. um die angestrebte Laufbahn bei der Bundeswehr. Probleme hatte er offenbar nur bei Isolde F. Das war ihrem Kollegen aus dem Fach Geschichte bekannt. Im November vorigen Jahres hatte die Sozialarbeiterin der Schule Claus K. gebeten, einmal mit Isolde F. zu sprechen, nachdem sich Alex O. der Pädagogin anvertraut hatte. Die beiden verabredeten einen Termin – für den 17. Januar 2005. Am Abend davor wurde die Lehrerin umgebracht. Er habe dem damals „nicht eine solche Brisanz beigemessen“, sagte Claus K. vor Gericht.

Der Prozess wird morgen mit der Vernehmung des Schulleiters fortgesetzt.