: Serielle Romantik
FAMILY OF NAN Nan Goldins beiläufige Schnappschuss- ästhetik hat in den 80er-Jahren die Fotografie revolu- tioniert. C/O Berlin würdigt nun die Meisterin im Verarbeiten der eigenen Biografie zu Kunst mit der Ausstellung „Poste Restante“
VON DETLEF KUHLBRODT
Sie waren etwas später zu der Party gekommen, weil sie zuvor auf der Eröffnung der Nan-Goldin-Ausstellung gewesen waren, im Postfuhramt in der Oranienburger Straße, die vor vier Wochen mit über 2.300 Gästen eröffnet worden war. Ich weiß nicht mehr, was A und B von der Ausstellung im Einzelnen erzählten. Es war ja schwierig; man kannte manche, die Nan Goldin für ihre „Ballad of Sexual Dependency“ fotografiert hatte. Die Kinder der Künstlerin Käthe Kruse (Tödliche Doris), um die es Skandal gegeben hatte, Alf Bold, der 1993 an Aids gestorben war, Pit, die sich das Leben genommen hatte.
A und B waren mit gemischten Gefühlen hingegangen. Dann hatte es ihnen doch gefallen; die Ausstellung hatte Gespräche in Gang gesetzt, über das Früher und die eigene Vergangenheit, die sich von der Ausstellung wieder entfernten. A hatte sich an eine Freundin erinnert, die Ende der 80er-Jahre innerhalb von zwei Jahren vierzigmal umgezogen war. Ihr Bild hätte auch in die Ausstellung gepasst.
Ein paar Tage später, der Winter hatte sich schon in den Herbst gemischt, war ich auch ins Postfuhramt gegangen. Ich war überrascht, wie groß es war. Man hätte einen ganzen Tag darin verbringen können. Im Erdgeschoss war ja noch die recht umfangreiche Ausstellung mit Filmen des amerikanischen Fotografen Robert Frank zu sehen, die an die Gegenkultur der 60er-Jahre erinnerte. Von der persönlichen Herangehensweise her, aber auch weil 60ies-Ikonen wie William S. Burroughs mitspielen.
Im ersten Stock dann die „Poste Restante“ genannte Nan Goldin-Ausstellung. Vor dreißig Jahren hatte die heute 56-jährige, aus Boston stammende Dokumentarfotografin mit intimen „Schnappschüssen“ ihrer Freunde, ihres Klans, die Fotografie revolutioniert. Eingeladen von Alf Bold, dem damaligen Programmleiter des Arsenal, war sie 1982 das erste Mal nach Berlin gekommen, hatte in einem besetzten Haus gewohnt und viele Freunde, darunter die Mitglieder der Tödlichen Doris, gefunden und war seither sehr oft in der Ex-Inselstadt gewesen. Längst ein Weltstar der Fotografie.
Die im Postfuhramt gezeigten Arbeiten bestehen aus etwa 1.600 Bildern. Klassische Diaserien wie die Selbstporträtserie „All by myself“ (1968–96) oder die seit ihrer ersten Präsentation 1981 immer wieder erweiterte „Ballad of Sexual Dependency“, die 1986 bei den Berliner Filmfestspielen hier zum ersten Mal gezeigt wurde; mit Sicherheit eine Sternstunde der Fotografie; die 15 Minuten lange „Heartbeat“-Diashow (2001), die von Paaren erzählt, die lebensfrohe Serie „The other side“ (1994) mit Dragqueens.
Die umfangreichste Serie, „The Ballad Of Sexual Dependency“, wurde in einer abgedunkelten Turnhalle gezeigt, in der noch Basketballkörbe hingen. Man saß auf weichen Bänken und schaute sich das an, wie einen Film von früher, ein berührendes Requiem, nicht nur weil viele der Porträtierten mittlerweile tot sind und Modefotografen den Stil von Nan Goldin kopiert haben, sondern auch, weil man seit der Erfindung der Digicams und der vergleichgültigenden Bilderflut im Internet eigentlich nicht mehr so fotografieren kann.
Den Skandal, den die Serie ausgelöst hatte, kann man daher nicht mehr recht nachvollziehen. Eigentlich sind es nicht romantisierende, sondern romantische Bilder, deren Romantik durch das Serielle abgemildert, durch die verwendete Musik (allein viermal Nico; natürlich mit „I’ll be your Mirror“ und dem komplett entrückten „Le petit chevalier“) aber wieder verstärkt wird.
Nan Goldin wurde oft vorgeworfen, sie hätte die Fotografierten ausgebeutet; sie hatte darauf geantwortet, sie habe Beziehungen (von denen sie ja auch ein Teil war) abgebildet, dass es ihr darum gegangen sei, „die Glaswand zwischen den Menschen zu zerbrechen“ und den Fotografierten „etwas zurückzugeben“.
In der Diskussion über Nan Goldins Fotografien wurde oft gesagt, es gehe um Verwundbarkeit des Menschen; dabei wird oft übersehen, dass es auch um Alltag geht und dass die Beziehung zwischen der Fotografin und den Fotografierten (die heute unter „Rock ’n’ Roll“ firmieren würden) nicht einseitig ist. Die Fotografierten präsentieren sich und ihre Umgebung durchgehend mit viel Stilbewusstsein. Was früher mit dem Begriff „Verkunstung“ kritisiert worden wäre, ist zunächst einmal Selbstverkunstung; was man Romantisierung nennen könnte, Selbstromantisierung mit allem Tröstlichen und allen Gefahren, die das in sich birgt.
Später guckte ich auf Youtube die Veranstaltung an, die nach der Eröffnung der Ausstellung stattgefunden hatte. Ein Professor hatte lobende Wort über das Werk Nan Goldins gesagt; Nan Goldin war gestolpert, als sie die Bühne betrat, hatte sich sofort erst einmal eine Zigarette angezündet, auf die Frage, ob man sie bald wieder als Berlinerin begrüßen dürfe, hatte sie gelächelt.