: Südstaatler in der Diaspora
Die USA erleben derzeit die wahrscheinlich größte Binnenwanderung ihrer Geschichte: Rund eine Million Menschen haben durch den Hurrikan „Katrina“ zumindest vorübergehend Obdach und Arbeit verloren – viele werden nie zurückkönnen
VON MICHAEL STRECK
Die Flutkatastrophe in den Südstaaten der USA hat rund eine Million Menschen aus ihrer Heimat vertrieben. Nun leben sie verstreut über das ganze Land. Die meisten in den Nachbarstaaten Texas oder Arkansas. Aber auch in entfernte Regionen hat es die Gestrandeten verschlagen. In Ohio errichtete das Rote Kreuz 20 Unterkünfte, in Kalifornien wohnen 800 Familien in Hotels.
Eine solche Umsiedlung haben die USA seit Generationen nicht erlebt. Es ist, als ob die gesamte Binnenwanderung während der Großen Depression in den 30er-Jahren in nur zwei Wochen geschah. Oder die Umsiedlungen während vier Jahren Bürgerkrieg im Zeitraffer. „Es ist die größte Migration der US-Geschichte“, glaubt Stephen Kleinberg von der Rice University in Houston.
Viele Naturkatastrophen, darunter der Monsterhurrikan „Andrew“, ließen die Menschen sich nur vorläufig in Sicherheit bringen. Doch „Katrina“ sprengt den Rahmen aller bislang erlebten Disaster. Hunderttausende kampieren in Notunterkünften. 400.000 Menschen haben ihre Arbeitsplätze verloren, viele davon unwiederbringlich.
Nun muss ein langer Übergang oder der Neubeginn organisiert werden. Sei es mithilfe der Bundesregierung, der jeweiligen Staaten, von Unternehmen oder privat. Das Rote Kreuz und die Katastrophenschutzbehörde Fema versorgen bislang rund 340.000 offiziell registrierte Vertriebene in Notbehausungen, verteilt auf 34 Staaten.
Die weitaus größere Anzahl Flüchtlinge, rund eine halbe Million, werden von einem breiten sozialen Netzwerk privater Solidarität aufgefangen: bei Freunden, Arbeitskollegen oder Familienangehörigen. Auch völlig Fremde bieten über das Internet ihre Unterstützung an.
Das Leben danach ist im Wesentlichen abhängig vom Leben davor. Viele Flüchtlinge aus New Orleans sind arm, schlecht ausgebildet und nicht versichert. Sie hängen die kommenden Monate völlig am Tropf staatlicher Versorgung oder, wie so häufig, kirchlicher Wohltat.
Für die Wohlhabenden ist die Lage weniger prekär. Sie können sich zum Beispiel in Houston im dort ansässigen Toyota-Center um Jobs und Wohnungen bewerben. Oder in Phoenix, Arizona, wo die Stadtverwaltung eine Jobmesse für die Neuankömmlinge auf die Beine stellte. Hier hatte Timothy Ambrose aus Louisiana Glück. Der 43-Jährige, der im ganzen Chaos seine Frau verlor, sie nun über das Rote Kreuz wiedergefunden hat, bekam sofort zwei Angebote. „Ich bin überwältigt von der Hilfe“, berichtete er der Post Gazette aus Pittsburgh. Nun überlegt er, im sonnigen und trockenen Arizona zu bleiben. Wie er stehen viele vor der Frage, ob sie zurückkehren oder ein neues Leben woanders aufbauen sollen.
Die Beantwortung dieser Frage ist natürlich so unterschiedlich wie die Menschen. Sie hängt aber im Falle von New Orleans davon ab, in welcher Form und Größe die Stadt wieder aufgebaut wird. Überdies entscheidet darüber die Integrationsfähigkeit der Aufnahmekommunen.
Metropolen wie Houston können relativ einfach Tausende absorbieren. Die Infrastruktur von Kleinstädten ist dagegen schnell überfordert, ihre soziale Belastungsgrenze rasch erreicht. Beispiel Baton Rouge. Die verschlafene Hauptstadt Louisianas, 120 Kilometer nördlich von New Orleans, erlebte nach der Flut einen Ansturm von Flüchtlingen. Anfangs leisteten ihre Bewohner Hilfe jeder Art. Doch bald, berichtet die Zeitung Christian Science Monitor, waren sie genervt von den langen Schlangen in Geschäften und Ämtern, machte sich Sorge breit um die öffentliche Ordnung und steigende Kriminalität. „Die Einwohner fühlen sich auf einmal belagert.“
Damit die Stimmung nicht kippt, ist entscheidend, dass staatliche Hilfe rasch, unbürokratisch und ausreichend fließt. Trotz der skandalösen Anlaufprobleme erteilen Experten der Fema diesbezüglich gute Noten. Eine halbe Milliarde Dollar wurde bereits an 260.000 Haushalte aus Louisiana verteilt.