: Filmemacher treiben Ermittler vor sich her
„Der Anschlag –Als der Terrornach Berlin kam“ (22.45 Uhr, ARD)
Von Jürn Kruse
Der Film läuft erst knapp 20 Minuten, da muss Astrid Passin den Raum verlassen. Sie hat Tränen in den Augen.
Passin hat beim Anschlag auf dem Breitscheidplatz am 19. Dezember 2016 ihren Vater verloren. Eines von zwölf Todesopfern.
Von hier oben, vom 14. Stock des Fernsehzentrums des Rundfunks Berlin-Brandenburg (RBB) aus, wo die Doku „Der Anschlag – Als der Terror nach Berlin kam“ vorab gezeigt und anschließend darüber diskutiert wird, kann man den Breitscheidplatz sehen. Man muss seinen Blick nur weg von der Leinwand und ein bisschen nach links wenden. So nah ist dieser Terroranschlag, nicht nur räumlich, sondern auch, weil fast wöchentlich neue, teils unfassbare Ermittlungsfehler offenbart werden. „Unfähigkeit“, sagt Passin nach dem Film auf dem Podium, „in einer Form, die man nicht mehr fassen kann.“
„Der Anschlag“, den der RBB produziert und zusammen mit der Berliner Morgenpost recherchiert hat, versucht trotzdem, diese Unfähigkeit irgendwie zu fassen. „Eine schier unendliche Geschichte des Versagens deutscher Polizeibehörden“, heißt es in der Doku. Beispiele? Die Fussilet-Moschee in Berlin-Moabit, in der Anis Amri verkehrte, zeitweise gar wohnte, hätte schon lange verboten werden können. Warum sie es nicht wurde? „Hauptgrund: Der zuständige Sachbearbeiter ist dauerkrank“, sagt der Sprecher in der Doku.
Amri wollte wohl im Sommer 2016 fliehen, er war an einer Messerstecherei mit verfeindeten Dealern beteiligt gewesen, doch er wird abgefangen – mit zwei gefälschten italienischen Ausweisen. Er kommt in Ravensburg vor Gericht, doch dort ist er ein unbescholtener Mann. Keine Vorstrafen. Die Richter wissen nichts von seinem Leben, nichts davon, dass er als Gefährder mit Prioritätsstufe 1 oder 1a gilt, dass er an einem bewaffneten Überfall beteiligt war. Die ErmittlerInnen geben ihr Wissen schlicht nicht weiter. Und so kommt er nach wenigen Tagen wieder frei.
„Ich glaube, er war fassungslos, dass er entlassen wurde“, sagt Bruno Jost, früherer Bundesanwalt und zuletzt Sonderbeauftragter des Berliner Senats im Fall Amri. Amri müsse sich spätestens zu diesem Zeitpunkt wie ein Auserwählter gefühlt haben, der mit allem durchkomme. Die Observation Amris durch das Berliner Landeskriminalamt war auch eine spezielle: „Es war schon überraschend, dass man eine Observation nach Bürozeiten organisiert“, sagt Jost in dem Film. Schluss mit dem Beschatten sei am frühen Abend gewesen – und das auch nur von Montag bis Freitag.
Der Film von Jo Goll, Sascha Adamek, Susanne Opaika, Norbert Siegmund und Ulrich Kraetzer ist aufwühlend, er hat das Potenzial, das Vertrauen in die Sicherheitsbehörden nachhaltig zu erschüttern, er ist so dicht, so detailreich, dass der Platz hier zu klein ist, um all die Pannen (eigentlich ein viel zu harmloses Wort) wiederzugeben.
Allerdings bleibt auch dieser Film in erster Linie beim Täter. Auch wenn der beim RBB für die Doku zuständige Redakteur Hermann Meyerhoff sagt, dass man die Sichtweise der Opfer haben „nach vorne stellen wollen“, spielen deren Schicksale doch höchstens eine Nebenrolle. Vielleicht ist ihnen mit dieser tiefen Recherche aber auch der größte Dienst getan: Adamek, Goll und KollegInnen treiben mit ihren Erkenntnissen die Ermittler und die Aufklärer vor sich her. Oder wie Meyerhoff sagt: „Natürlich ist jetzt nicht Schluss.“ Der Fall wird weiter ganz nah bleiben. Vielleicht äußert sich dann auch einer der Ermittler, Politiker, Geheimdienstler, die im Abspann genannt werden – weil sie zu „Der Anschlag“ nichts beitragen wollten.
Und hoffentlich verzichtet der RBB dann auch auf diese reißerische Bild- und Tonstörungsoptik, bei der Bauchbinden, Grafiken und Sounds sich immer nur widerwillig zusammensetzen. Eine Aufmachung, die man sonst von True-Crime-Formaten aus dem Privatfernsehen kennt. Und hoffentlich bieten nachfolgende Recherchen auch eine Antwort auf die Frage, ob es tatsächlich – wie der Film immer wieder insinuiert – mehr Überwachungspersonal bei den Landeskriminalämtern und beim Verfassungsschutz braucht, um sicherer zu sein.
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