: Zärtliche Briefe schrieb er auch an Männerfreunde
WÜRDIGUNG An den Schriftsteller Max Hermann-Neiße (1886 bis 1941) erinnerte am Freitag ein literarisches Gespräch. Bemerkenswert: des Autors Hang zu polyamourösen Lebensformen und einige den Internetchat vorwegnehmende Passagen
Max Hermann-Neiße gehört zu den vor allem in der Weimarer Republik berühmten Autoren, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Vergessenheit gerieten. Der aus der schlesischen Stadt Neiße stammende, 1886 geborene Dichter, der einen Buckel hatte und an Kleinwüchsigkeit litt, gilt als der meistgemalte Schriftsteller der Weimarer Republik. Er schrieb Gedichte, Theaterstücke, Erzählungen, Romane, trat häufig in Kabaretts auf und hielt sich mit journalistischen Arbeiten und als Korrektor bei Fischer über Wasser. Berühmt wurde er vor allem durch seine Lyrik, die anfangs stark vom Expressionismus geprägt war. Ab 1925 tendierte er zur Neuen Sachlichkeit.
Kurz nach dem Reichstagsbrand emigrierte er nach London, wo er 1941 verstarb. Seine Werke wurden 1933 von den Nazis verboten. Zwischen 1986 und 1988 erschien eine zehnbändige Gesamtausgabe bei 2001, und im September kam eine zweibändige, fast 2.000 Seiten dicke Sammlung seiner Briefe auf den Markt, die am Freitag in den Exil-Räumen des Literaturforums im Brechthaus in der Saarländischen Galerie am Festungsgraben vorgestellt wurde.
Etwa 15 Leute waren gekommen, um dem Gespräch zuzuhören, dass Ralf Schock vom Saarländischen Rundfunk mit Klaus Völker, dem Herausgeber der Briefausgabe, führte. Völker, der unter anderem Boris Vian und Alfred Jarry übersetzte, als Dramaturg in Zürich, Basel, Bremen und Berlin tätig und zwischen 1993 und 2005 Rektor der Schauspielschule Ernst Busch war, hatte auch die Max-Hermann-Neiße-Gesamtausgabe besorgt.
Weil das Gespräch für eine Radiosendung aufgezeichnet wurde, trugen beide Gesprächsteilnehmer moderne Headsets. Zunächst erzählte Völker, wie er den Dichter durch Stephan Hermlin kennenlernte. Dann berichtete er von dessen Biografie. Der Vater war Wirt beziehungsweise „Bierverleger“. Hermann-Neiße studierte zunächst in Breslau, pendelte später zwischen Neiße und Berlin, wohin er 1917 zog, und lebte in einem „offenen, freien Verhältnis“ mit seiner späteren Frau Leni Gebek.
Danach las Völker aus verschiedenen Briefen Hermann-Neißes vor, und man sprach etwa über das Verhältnis des „frauenverliebten“ Dichters zu Frauen im Allgemeinen und dem zu seiner späteren Frau im Besonderen. Angezogen von der dort herrschenden „menschlichen Aufgeschlossenheit“, hatte sich Hermann-Neiße gern in Rotlichtmilieus herumgetrieben. Das Verhältnis zu seiner Frau war offen; in seinen Briefen berichtete er ihr auch von seinen Puffbesuchen, die sie akzeptierte. Inwieweit er seine erotischen Wünsche auslebte, blieb unklar. Ralf Schock hob hervor, dass der Dichter auch immer wieder von den „leidvollen Erlebnissen verpasster erotischer Gelegenheiten“ geschrieben hatte.
Man sprach darüber, wie er das Paris Ende der 20er, in dem er sich sehr wohl gefühlt hatte, mit Berlin verglich – in Berlin gibt es hübschere Frauen –, erörterte die Briefstellen, die aus heutiger Sicht antisemitisch klingen – der Vorwurf erledige sich, wenn man den Zusammenhang und die politische Haltung Hermann-Neißes berücksichtige; es ging um das schwierige Dreierverhältnis, in dem der Schriftsteller zusammen mit seiner Frau und dem Juwelier Alphonse Sondheimer in London lebte, um die Einsamkeit im ungeliebten Exil.
Heilig-holder Schoß
Beim Selberlesen fallen einem die Zärtlichkeit auf, mit der Hermann-Neiße auch an Männerfreunde schrieb, das ambivalente Verhältnis, das er zu seinem Schaffen hatte, und die Passagen des jungen Dichters, die sich lesen, als kämen sie aus einem Internetchat: „manchmal denke ich auch gar verfängliche Sachen von dir … traumdenke … da denke ich an deinen heilig-holden Schoß.“ DETLEF KUHLBRODT