Katrin Seddig Fremd und befremdlich: In einer Hamburger Schule kann man jetzt Kondome kaufen – genau richtig
Katrin Seddig ist Schriftstellerin in Hamburg mit einem besonderen Interesse am Fremden im Eigenen. Ihr neuer Roman „Das Dorf“ ist kürzlich bei Rowohlt Berlin erschienen.
Ab meinem vierzehnten Lebensjahr hatte ich regelmäßig Sex mit meinem damals fünfzehnjährigen Freund. Mein Freund kaufte selbst Kondome, ich ließ mir vom Arzt die Pille verschreiben. In der DDR ging das problemlos, die Einwilligung der Eltern war nicht notwendig.
In meiner Jugend war der Zugang zu Pornografie nicht so leicht, wie er heute ist. Ich hatte bis zur Wende keinen einzigen pornografischen Film gesehen. Unsere Eltern sprachen nicht über Sex. Dennoch hatten wir, und ich kann hier von einem „wir“ sprechen, denn wir unterhielten uns darüber, Freunde, Klassenkameraden, Geschwister, sehr wohl sexuelle Gefühle, bereits im Kindesalter.
Natürlich waren sie da erst diffus. Dass ich damals nicht mit fünfzehn ein Baby bekam, verdanke ich einer relativ guten und frühen schulischen Aufklärung. Es fehlte in dieser Aufklärung vieles, homosexuelles Begehren zum Beispiel, aber wir wussten, dass es, von Staats wegen sozusagen, in Ordnung war, Sex zu haben. „Denkst du schon an Liebe?“ war das Buch, das jeder zu Hause hatte, in dem es auch um Gefühle ging, und in dem Nackte inklusive Geschlechtsteile abgebildet und erklärt waren.
Was ich meine: Aufklärung sexualisiert nicht, sie gibt dir nur die Möglichkeit, Dinge (dich selbst) zu verstehen. Es ist sehr wichtig für Heranwachsende, zu erfahren, dass das, was sie empfinden, in Ordnung ist. Dass sie sich dafür nicht zu schämen brauchen. Dass sie nur eben lernen müssen, mit sich selbst und anderen verantwortlich umzugehen. Eltern, die glauben, dass ihre Kinder keine sexuellen Gefühle haben, oder dass ihre Kinder von Aufklärung ferngehalten werden sollten, damit die Entstehung sexueller Gefühle sozusagen – aufgehalten wird, die irren. Und Eltern, die einer sexuellen Aufklärung mit einem derartigen Entsetzen gegenüberstehen, die können doch nicht ernsthaft glauben, dass sie jemals von ihren Kindern über deren sexuelle Gefühle unterrichtet werden würden.
Die Aufklärung in der DDR war sehr trocken, eher pragmatisch und sicherlich in mancher Hinsicht mangelhaft. Aber sie gab uns die Sicherheit zu wissen, dass nichts dabei sei, Sex zu haben, dass nichts dabei sei, ein Kondom zu kaufen oder zur Gynäkologin zu gehen. Und wenn es von besorgten Eltern heißt, die Schule wäre der falsche Ort, dann muss ich sagen: Die Schule ist genau der richtige Ort. Es wird ja oft bemängelt, dass in der Schule den Kindern nichts über das Leben beigebracht wird. Nun, das ist das Leben. Wo sollen sie sonst etwas über Sexualität lernen? Auf der Toilette? Beim Onkel? In der Kirche?
Zum Glück ist der Sexualkundeunterricht mittlerweile den unterschiedlichen Bedürfnissen, den verschiedenen Orientierungen, angepasst worden, sodass alle Kinder und Jugendlichen sich mit ihren Gefühlen und ihrem Begehren „normal“ finden dürfen. Und wenn es jetzt an Schulen Kondomautomaten gibt, dann ist das eine folgerichtige Ergänzung zum Sexualkundeunterricht. Denn wenn es richtig und gut ist, Kondome zu benutzen, warum sollen sie dann nicht für Jugendliche an Jugendlichenorten zugänglich gemacht werden? Und nein, Kondome machen Schüler nicht geil. Niemanden machen Kondome geil. Menschen machen andere Menschen geil.
Der Verein „Jugend gegen Aids“ hat in Hamburg einen ersten Hamburger Schul-Automaten aufgestellt, an dem man für 20 Cent ein Kondom erwerben kann. In Berlin damals soll die Katholische Kirche sich empört haben. Eltern haben sich auch empört, natürlich, diese Eltern, die glauben, dass ihre Kinder ganz gewiss keine sexuellen Gefühle haben und niemals schwanger werden können. Das gehört doch nicht in die Schule, höre ich sie sagen, aber wo gehören sie sonst hin, diese Automaten, auf die öffentliche Toilette, auf den Bahnhof?
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