Deutschland zu langsam klüger

Die neue Studie „Bildung auf einen Blick“ zeigt Verbesserungen der Bildungssituation. Die Kennziffer Akademikerquote steigt auf 38 Prozent. Allerdings verkehrt die Alterung der Gesellschaft den Positivtrend ins Negative – und löst Parteienstreit aus

AUS BERLIN CHRISTIAN FÜLLER

„Das ist wie ein statistisches Jahrbuch“, sagt Johanna Wanka (CDU), „das ist nicht sensationell.“

Wenn eine Bildungsstudie über Deutschland skeptisch urteilt, frisst der CDU-Wolf Kreide. Dann ist Deutschland, dem es in den Verlautbarungen der Union sonst ganz furchtbar schlecht geht, in bester Verfassung. So war es auch gestern wieder.

In Berlin wurde turnusmäßig der internationale Vergleich „Bildung auf einen Blick“ vorgestellt – und schon entdeckte Johanna Wanka hoffnungsvolle Zeichen.

„Deutschland ist Spitzenreiter“, meinte die Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK), die Wissenschaftsministerin in Brandenburg ist. Wie sie darauf kommt? 80 Prozent der Deutschen hätten Abitur oder erreichten einen Schulabschluss der zweiten Sekundarstufe, erläuterte Wanka. Im OECD-Vergleich seien das nur 60 Prozent.

Johanna Wanka ist Mitglied der CDU, und als solches hat sie in diesen Tagen eine Mission: Dem Bildungsland geht es gut, mindestens geht es aufwärts.

Tatsächlich vermeldete die Organisation für Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) gestern eine deutliche Verbesserung. Nach der desaströsen Pisastudie aus dem Jahr 2000 wird es besser. Sogar der kritische Bildungsforscher Andreas Schleicher sagte: „Erfreulich ist, dass sich eine deutliche Trendwende abzeichnet.“ Schleicher meinte damit die durch die Bank steigenden Zahlen. In Deutschland gibt es mehr Studenten, mehr von ihnen schaffen tatsächlich einen Abschluss, und es wird auch mehr Geld in Bildung investiert. Alles paletti also?

Nein, denn der Genosse Trend kämpft mit dem Genossen Alterung. Zwar hat Deutschland die Zahl seiner StudienanfängerInnen eines Altersjahrgangs erheblich steigern können. 1998, als die OECD mit systematischen Bildungsvergleichen begann, waren nur 28 Prozent eines Jahrgangs auf dem akademischen Pfad. 2003 waren es 36 Prozent. Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn (SPD) hatte noch neuere Zahlen. Sie berichtete, dass im Jahr 2004 sogar 38 Prozent ein Studium aufnahmen.

Die Zahl der Akademiker eines Jahrgangs gilt als wichtigste Kennziffer für ein Bildungssystem im 21. Jahrhundert. Alle Arbeits- und Zukunftsforscher prophezeien, dass die Jobs, die künftig zu vergeben sind, hohe Anforderungen an die Qualifikation stellen. Das heißt: Man kann gar nicht genug junge Leute auf die Hochschulen schicken.

Aber das alles reicht nicht aus. Denn während fleißig Abiturienten in die Hochschulen strömen, altert die Gesellschaft vor sich hin. Das Ergebnis aus dieser Entwicklung ist paradox und erklärt sich in seiner ganzen Dramatik durch eine andere Zahl: Der Anteil der Akademiker eines Jahrgangs nimmt auf die lange Sicht gesehen nicht zu, sondern ab. Böse gesagt heißt das: Deutschland wird dümmer. Das ist obendrein ein Trend, bei dem die Bundesrepublik unter den OECD-Staaten auf weiter Flur fast allein steht. Fast alle OECD-Staaten haben die Quote ihrer an einer Hochschule Examinierten in den vergangen Jahren gesteigert, teilweise dramatisch. Allein die USA und Deutschland verringern diese Quote. (Siehe Grafik).

„Da muss man sich Sorgen machen“, warnte OECD-Forscher Andreas Schleicher. Und Schleicher hatte guten Grund, die Chefin der Kultusministerkonferenz sachte in ihrer positiven Einschätzung zu bremsen. Wenn 38 Prozent eines Jahrgangs studieren, ist damit das Ende der Fahnenstange erreicht. Mehr Abiturienten hat das Land wegen seines gegliederten Schulsystems gar nicht. Will sagen: Die beeindruckenden, teils beängstigenden Quoten etwa Finnlands oder Koreas, wo rund 70 Prozent eines Altersjahrgangs auf eine Hochschule gehen, ist in Berlin, Hamburg, München, Dresden oder Köln gar nicht möglich – dort erreichen, je nach länderspezifischer Regelung, nur 30 bis 40 Prozent die Hochschulreife.

Die Reaktionen auf die Sackgasse, in der sich das deutsche Bildungssystem befindet, könnten nicht größer sein. Andreas Schleicher, der kühle Analytiker, lehnt die These, dass die Deutschen dümmer würden, mangels empirischer Grundlage ab. Er gesteht nur: „Das Aufholen bei der Akademikerrate geht in Deutschland nicht so schnell wie in anderen Ländern.“ Aus zwei Gründen: Erstens wurde in den 80er- und 90er-Jahren viel versäumt, zu wenige AbiturientInnen ergriffen überhaupt ein Studium. Und zweitens lässt sich die Akademikerquote nur steigern, wenn mehr Schüler das Abitur bekommen. Davon aber will die Union und auch die Präsidentin der KMK, Johanna Wanka, nichts wissen: „Wir können jetzt eine Abiturientendebatte führen“, verweist sie wieder auf die Tabelle der Sekundarschulabsolventen. „Aber wir können auch konstatieren: Die Bildungsbeteiligung ist gut.“

Edelgard Bulmahn (SPD) denkt da naturgemäß ganz anders. Sie hat die Ausgaben für Hochschulen teils gegen den Widerstand der Unionsländer erhöht. Sie hat das Bafög verbessert. Sie hört nicht auf zu predigen, dass ihre Politik weitergehen müsse – sonst drohe die Rolle rückwärts. „Deutschland wird weniger schnell klüger als die anderen Länder“, sagt sie und verweist auf die sprunghaften Zuwachsraten anderer Staaten. Auch auf der Lieblingstabelle ihrer Kollegin Wanka hat Bulmahn entdeckt: Inzwischen sind neun Staaten an Deutschland vorbeigezogen – selbst wenn man die Abschlüsse an Gymnasien, Realschulen und Hauptschulen zusammenzählt.

Das Problem der neuesten Zahlen, die ein längst bekanntes Problem offenbaren: Es gibt auch politisch keinen Ausweg aus der Sackgasse des dreigliedrigen Bildungswesens. Wer die Wahlprogramme der Parteien studiert, kann leicht feststellen: Alle Parteien, mit Ausnahme der Union, plädieren mehr oder weniger radikal für ein Umdenken in der Bildungspolitik.

Die FDP will eine grundsätzliche Aufwertung, die SPD geht den Umweg über die Ganztagsschule, am eindeutigsten sind die Grünen und die Linkspartei, die einen Umstieg von der dreigliedrigen Schule auf eine „Schule für alle“ fordern. Damit ließe sich (auch wenn das kein isolierter Schritt sein dürfte) in der Tat die Abiturquote und in deren Folge die Akademikerquote steigern. (Siehe Spalte)

Allerdings: Keine dieser Parteien kann am Sonntag auf eine bildungsgestaltende Mehrheit hoffen, nicht mal in der Kombination ginge das. Denn die Union hält nichts von der Schule für alle – aber sie braucht sich dazu gar nicht weiter äußern, sie schwiegt einfach. Und verweist darauf, dass die Länder für Bildung zuständig sind. Im Notfall könnte die Union vom Bundesrat aus alle Versuche etwa einer Ampelkoalition im Bund blockieren, am überkommenen Schulsystem etwas zu ändern. Genau genommen bräuchte sie es gar nicht, denn die Schulkompetenz liegt nun mal definitiv bei den Bundesländern.

Und so endet die Vorstellung der Bildungsstudie „Bildung auf einen Blick“ wie so oft. Die KMK-Präsidentin verhakt sich, zunehmend schärfer argumentierend, mit der Bildungsministerin des Bundes. Andreas Schleicher sitzt lächelnd, aber kopfschüttelnd daneben. Die Journalisten gehen nach Hause.