: Warten auf die dritte Explosión
Das diesjährige Popkommpartnerland Spanien ist ein popmusikalischer Spätzünder: Erst nach Francos Tod begann sich eine eigenständige Szene zu entwickeln. In den Achtzigern orientierte man sich am Punk, in den Neunzigern entwickelten sich regionale Identitäten
VON GUIDO KIRSTEN
Spanien ist die Terra incognita der europäischen Popmusik. Alle Jubeljahre flirrt ein Sommerhit à la „Macarena“ oder „The Ketchup Song“ über den Äther, dessen Herkunft sich vielleicht in ein verschwommenes Bild von Lloret del Mar und Sangría aus dem Eimer einfügen mag, aber kaum ein getreues Bild der iberischen Popproduktion zeichnet. Kramt man ein bisschen im Gedächtnis, fallen einem vielleicht noch die Héroes del Silencio ein, deren Hit „Entre dos tierras“ Anfang der Neunziger auf MTV rauf und runter genudelt wurde. Und für die etwas kosmopolitischere Fraktion die „Café del Mar“-Compilations und ein gewisser Manu Chao. Wobei Letzterer schon fast exemplarisch für die Wahrnehmung der spanischen Musik im Ausland ist: Er ist (als gebürtiger Franzose) zwar in der Mestizo-Szene von Barcelona verwurzelt, inszeniert sich aber als musikalischer Weltbürger, der auf drei Sprachen singt und am liebsten durch Südamerika tourt. Von spanischer Nationalidentität der Sorte „French Band“ (das sich die Franzosen von Air halbironisch auf ihr „Moon Safari“- Cover schrieben) ist das denkbar weit entfernt. Und das hat seine guten Gründe.
Die spanische Pophistorie begann mit Verspätung. In den Sechzigerjahren, die in ganz (West-)Europa Beatles- und Stones-Ableger wie Pilzköpfe aus dem Boden sprießen ließen und die den Pop dermaßen globalisierten, dass in allen Ländern bei den gleichen Bands in Ohnmacht gefallen wurde, herrschte in Spanien noch die dunkle Franco-Diktatur. Die träumte trotz katalanischer und baskischer Separatisten und kulturell disparater Geschichte vom großen spanischen Reich mit einer Sprache und Kultur. Zwar kannte und liebte man auch hier die Beatles, allerdings unter dem Namen „Los escarabajos“ (Die Maikäfer), deren Platten nur in spanischen Editionen (alle Songtitel wurden einfach ins Spanische übersetzt) erhältlich waren. Bei dem Konzert auf dem Plaça de Toros in Barcelona spielten die Liverpooler vor einem riesigen Polizeiaufgebot. Die Pseudo-Subversivität der Beatbands wurde hier noch richtig ernst genommen.
Ein erstes Lebenszeichen sandten die spanischen Beatbands dann in Gestalt des Superhits „Black is black“ (Los Brincos) an die Außenwelt, der sogar in den USA auf den zweiten Platz der Charts kletterte. Ansonsten waren die Sechziger eher von Anleihen in Italien und beim französischen Chanson gekennzeichnet. Popmusik im heutigen Sinne gab es noch nicht. Das änderte sich erst langsam in den letzten Jahren der Diktatur und nach Francos Tod 1975. Das war die Zeit der so genannten Transición, der politischen Veränderungen und der vorsichtigen kulturellen Öffnung. Zunächst hatten die „Cantautores“ (Singer-Songwriter) ihre große Stunde: Barden und Guitarreros, die mit ernsthaften Texten ein Umdenken herbeisingen wollten. Nun wurde auch öffentlich und lautstark das Diktat des Allhispanismus ignoriert und in der eigentlichen Muttersprache gesungen. Die Platte „Mediterrania“ des katalanischen Singer/Songwriters Joan Manuel Serrat gilt in dieser Hinsicht als Meilenstein. Von der europäischen und amerikanischen Entwicklung blieb die spanische Musik allerdings auch zu diesem Zeitpunkt noch weitgehend abgeschnitten.
Im Sommer 1976 schlendert die erst fünfzehnjährige Olvido Gara, die in Zukunft unter dem Namen Alaska von sich Reden machen wird, über den Flohmarkt El Rastro, auf dem sich das etwas buntere Volk von Madrid tummelt. Dort trifft sie auf Fernando Marquez, der das erste spanische Fanzine in Eigenproduktion herausgibt und auf dem Flohmarkt unter die Leute zu bringen versucht. Gemeinsam beschließen die beiden, eine neue Zeitschrift zu gründen, die sich dem gerade aus England durch unbekannte Kanäle eingeschleusten Phänomen Punk widmen will und den passenden Namen Kaka de luxe tragen soll. Als die beiden gemeinsam mit den Freunden Nacho Canut und Carlos Berlanga die gleichnamige Band starten, ist das die Geburtsstunde der alternativen Musik in Spanien.
Die Steine kommen ins Rollen, bei einem Festival 1978 gewinnen Kaka de luxe den zweiten Preis und sind fortan in aller Munde. Nachahmerbands formieren sich und bald ist eine Bewegung geboren, die unter dem Namen „La Movida“ von Madrid aus Spanien eroberte. Teil dieser Szene ist auch ein junger Filmemacher namens Pedro Almodóvar, der in seinem ersten, trashig-genialen Film „Pepi, Lucy, Bom y otras chicas del montón“ Alaska, der charmanten Kaka-de-Luxe-Frontfrau, eine der Hauptrollen gibt.
Zur gleichen Zeit nimmt auch die Radiostation Onda Dos den Sendebetrieb auf, die mit Programmen wie „Esto no es Hawai“ die neue Musik promotet. Esteve Farrés, Chronist der alternativen Musik in Spanien, beschreibt die Entwicklung wie folgt: „Nach dem Aufkommen des Punk gab es zwei Momente, die eine Lawine von Bands, Platten und Independent-Labels und große (und später enttäuschte) Erwartungen der Veränderung der festgefahrenen Plattenindustrie erzeugte. So wie in anderen Ländern der Punk und der Grunge entstanden, gab es hier die Movida (in den ersten Jahren der Achtziger) und einen Boom der Noisemusik Mitte der Neunziger, die die Szene mit vorher unbekannter Stärke aufwühlten.“
Die madrilenische Movida ist also die erste große neue Welle. Hier verbinden sich ironische und modebewusste Punkanleihen (ohne dass damit, wie in Deutschland beispielsweise, eine radikale politische Haltung verbunden wäre) und naive Popentwürfe. Im Lauf der Achtzigerjahre haben die Movida-Bands immer größeren, landesweiten Erfolg und können auch kommerziell mit den Mainstreamproduktionen mithalten. Ihre Hits sind in aller Ohren und Munde. Im Rückblick lässt sich vielleicht die Harmlosigkeit bemängeln, die damit einherging. Im Zweifelsfall kokettierte man lieber mit Infantilität oder unschuldiger Ironie, als dass die Francojahre und die unvollständige Transición thematisiert und die Kontinuität im politisch-juristischen Establishment angegangen worden wären. Insgesamt erinnert die spanische Popmusik dieser Dekade an die kollektive Verdrängungshaltung der Deutschen in den Fünfzigern – nur eben im Gewand der schrillen und bunten Achtziger. Mit dem kommerziellen Erfolg und aufgrund fehlender musikalischer Innovation zerfällt die Movida langsam. Einzig die wackere Alaska (mit ihren Nachfolgeprojekten Alaska y los Pegamoires, Alaska y Dinarama und Fangoria) macht (bis heute) unermüdlich weiter.
Die schon angesprochene zweite Explosión ereignet sich dann Anfang bis Mitte der Neunziger. Und diesmal nicht nur in der Hauptstadt, sondern vor allem in der Provinz. Aus San Sebastián kommen Bands wie Le Mans, La Buena Vida und Family, die den so genannten Donosti Sound kreieren („Donosti“ ist Baskisch für San Sebastián). Als Legende dieser Zeit gehen „Family“ in die spanischen Popannalen ein, ihr einziges Album „Un soplo en el corazón“ (1993) gilt als Startschuss der neuen Welle. Plötzlich schien es möglich, nicht mehr im grauenhaft schlechten Englisch der ersten spanischen Noisebands zu singen, sondern die einfachen, aber lyrischen Texte im Mutteridiom vorzutragen. In Kombination mit ihrem tighten Indiepop machte das die „Family“ zum Rolemodel der kommenden Dekade.
Zu ihrem Kultstatus hat sicherlich beigetragen, dass nur ein Foto von der Band existiert und sie sich direkt nach der ersten Platte auflöste. Der Sänger, der jetzt für das Design der Platten von befreundeten Bands zuständig ist, gilt immer noch als Integrationsfigur der Indieszene in San Sebastián. Das erfolgreiche Indie-Label Elefant veröffentlicht fast alle Platte des Donosti Sound, signt inzwischen aber auch ausländische Bands.
Etwa zeitgleich entsteht in Gijón (Asturien) der eher postrockige und noisige Gijon Sound. Hier sind Bands wie Penelope Trip, Australian Blonde und Manta Ray zu nennen. Letztere begannen als Sonic-Youth-inspirierte Noiserocker und haben sich in der Folge zu spanischen Postrockhelden entwickelt, die mit den Vorbildern aus England und Chicago musikalisch locker mithalten können, wie sie mit den Alben „Pequeñas puertas que se abren, Pequeñas puertas que se cieran“ und „Esparanza“ beweisen. Ihr Sänger der ersten Tage, Nacho Vegas, wandelt schon länger auf Solopfaden und gilt als iberischer Tom Waits.
Die Neunziger waren auch in Spanien eine Boomzeit für allerlei alternative Musikrichtungen. So sorgte auch der Rabal Sound aus Barcelona mit Mano Negra, Dusminquet und Amparanoia für Furore. All diese Bands zeichnet eine wilde Fusion aus verschiedenen Stilrichtungen (Alternative Rock, Reggae, HipHop und südamerikanische Folklore) aus. Ojos de Brujo, die auf dem Popkommfestival spielen, integrieren beispielsweise Dub-Elemente und die spanische Flamencotradition.
Derlei Fusionen haben auch im spanischen HipHop, der sich überall wachsender Beliebtheit erfreut, ihre Anhänger gefunden. Die andalusischen „La mala Rodriguez“ gelten hier ebenso als Vorreiter wie „Solo los Solo“ aus Barcelona. Immer größer werdende Festivals wie das „Sonar“ für elektronische Musik in Barcelona, das „Benicàssim“ und sehr viele andere spiegeln diese Euphorie.
Im neuen Millennium ist die Begeisterung etwas abgeebbt, ähnlich wie in anderen europäischen Ländern erlebt die Musikindustrie eine tiefe Krise. Die Majors reagieren risikoscheu auf die Verkaufseinbrüche, neue Bands kommen nur auf einem der vielen kleinen Indielabels unter, verkaufen aber kaum genug Platten, um zu überleben. Viele Anzeichen für eine Normalisierung der spanischen Popindustrie also.
In Spanien wurde übrigens unter dem Namen „Operación Triumfo“ das Popstar-Casting-Format erfunden, das in den europäischen Nachbarländern so viele Nachfolger gefunden hat. Einige neuere Bands wie „Astrud“, die Postpunk mit Performancekünsten verbinden und in diskurswilligen Musikzeitschriften mit Begeisterung aufgenommen werden, polarisieren das Indiepublikum mit ihrer leicht prätentiösen Attitüde. Große Erfolge feiern Powerpopbands wie „The Sunday Drivers“, die auf Englisch singen und auch aus Großbritannien kommen könnten.
Es passiert also immer noch einiges auf der iberischen Halbinsel, längst nicht alles ist allerdings auch der Rede wert. Auch darin erinnert Spanien momentan an Resteuropa. Auf eine dritte Explosión wird jedenfalls noch gewartet.
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