Die Verführung der Massen

Die US-Performerin St. Vincent überzeugt im Berliner Huxley’s mit Art-Pop und Schwimmflügeln

Von Julia Lorenz

Bitte, lass es die Stiefel sein. Diese kniehohen Ungetüme aus pinkfarbenem Lackleder, zu betrachten auf den Bildern, mit denen Annie Clark die neue Platte ihres Projekts St. Vincent bewirbt. Auf einem der Fotos steckt einer der Stiefel an einem Bein, das durch ein Loch in der Wand ins Bild hängt. Trägt ihn eine Frau oder eine Schaufensterpuppe? Unmöglich zu sagen. Clark steht daneben mit verschränkten Armen und guckt herausfordernd, als wolle sie fragen: Na, steht ihr auf diesen Quatsch? Tun wir.

Deshalb hoffen wir, die Kronprinzessin der New Yorker Pop-Intelligenzija möge an diesem Donnerstagabend auch im Berliner Huxley’s diese Stiefel tragen. Kaum ein Kleidungsstück charakterisiert die aus Tulsa, Oklahoma, stammende Sängerin im zehnten Jahr ihrer Karriere so gut wie diese Schuhe. Clarks artifizielle Erotik ist ein Versprechen, das nicht eingelöst wird. „Masseduction“, also mass seduction, der Titel ihres fünften Soloalbums, ist programmatisch: Massenverführung mit Rechtschreibfehler.

Und ja, Clark trägt sie wirklich, die Killerstiefel. Im pinkfarbenen Bodysuit, geschmückt mit Armstulpen, die kleinen Schwimmflügeln gleichen, eröffnet sie das Konzert mit der Grandezza eines Stummfilmstars. Im Laufe des Abends wird sie ihren Werdegang als Revue nachzeichnen: Von den Anfängen als exzentrische Songschreiberin zur Kunstfigur in der Tradition von Performer*innen wie David Bowie. Die Konzertbegleitung vergleicht Clark im Laufe des Abends mit Wonder Woman, Alanis Morissette und einem Alien.

Edvard Munchs Gummipuppe

Am Anfang steht Clark allein mit ihrer Gitarre auf der Bühne; nach einigen Songs aber schwingt der schwere, dunkle Vorhang zur Seite. Zum Vorschein kommt eine Videoleinwand, auf der wir in ein stilisiertes Frauengesicht schauen. Große Klimperaugen, erschrockener Ausdruck, kleine Fangzähne, als hätte Edvard Munch eine Gummipuppe entworfen. Clark tauscht derweil die Schwimmärmel gegen ein silbernes Kostümchen.

Anders als Lady Gaga, der Camp-Ikone der Massen, hat Clark nicht nur Schauwerte und die ewig stampfenden Kirmesbeats im Angebot, sondern vertrackte Songs. „Masseduction“ ist neunmalkluger Brausepulver-Pop: ein bisschen Konzeptalbum über eine Domina in der Psychiatrie, ein bisschen Break-up-Platte: Clark hat vor Kurzem ihre Beziehung zum Topmodel Cara Delevigne beendet.

Doch warum in den Niederungen des Privaten fischen, wenn auf der Bühne alles so verlockend glänzt? Zu „Masseduction“ kotzt Videoscreen-Clark pinkfarbene Soße auf den Tisch, während ihr analoges Ebenbild zum vierten Mal die Gitarre wechselt. Schwarzgekleidete Männer mit Strumpfmasken reichen ihr stetig neue Modelle in diversen Bonbonfarben. Unbehaglich witzig ist das alles. Und es ist ein hübsches Detail, dass gerade der zweite Teil der Show, in dem Clark die Songs ihrer neuen, angeblich bislang persönlichsten Platte spielt, in ihrer neongrellen Rummeligkeit zugleich Dis­tanz aufbaut, Abstraktion erlaubt und fasziniert, also Pop par excellence bietet.

„Happy Birthday, Johnny“ heißt Clarks Ode an Johnny, einer in ihrem Schaffen wiederkehrenden Figur, die von ihrer Schöpferin nun in die Obdachlosigkeit geschickt wird. Noch so ein feine Finte: Eine fiktive Figur bekommt den schönsten Tearjerker des Abends.