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Schön verloren

Borussia Mönchengladbach spielt die „vielleicht beste Halbzeit der Saison“ (Trainer Hecking) und verliert 1:5 gegen Bayer Leverkusen

Lars Bender (Lever­kusen), Mickaël Cuisance (Gladbach) und der Ball (v. r. n. l.) Foto: dpa

Aus Mönchengladbach Daniel Theweleit

Üblicherweise finden frustrierte, schockierte oder enttäuschte Fanmassen ganz unterschiedliche Wege, ihre Gefühle zu kanalisieren. Manche pfeifen, andere schimpfen oder randalieren, wieder andere rea­gieren mit demonstrativen Aufmunterungen.

In Mönchengladbach waren am Samstagnachmittag ausnahmsweise keine dieser erwartbaren Reaktionen zu beobachten. Die Leute waren überrumpelt, sie wollten einfach nur flüchten, nachdem Julian Brandt in der 69. Minute zum 3:1 für Bayer Leverkusen getroffen hatte. Jeder spürte: Das hier würde ein ganz schlimmes Ende nehmen. In Massen strömten sie nach Hause oder in die Kneipen. Nur der Block mit den Anhängern aus Leverkusen feierte einen 5:1-Sieg und ein aberwitziges Fußballspiel.

„Das habe ich in der Form auch noch nicht erlebt“, sagte Gladbach-Trainer Dieter Hecking, nachdem ein süßer Rausch zu einem fürchterlichen Horrortrip geworden war. Denn in der 46. Minute hatten die Gladbacher noch vom Anschluss an die Tabellenspitze geträumt, von der Rückkehr in die Champions League, von einer Saison als echtes Spitzenteam. Hecking sprach später von der „vielleicht besten Halbzeit der Saison“, mit der sein Team das Publikum erfreut hatte, statt 1:0 hätte es eigentlich 3:0 führen müssen. Ein Gefühl, das sich innerhalb von 25 Minuten in den Frust über die krachendste Heimniederlage des Jahrtausends verwandelt hatte.

Zuletzt hatten die Gladbacher 1998 ähnlich hoch verloren, damals 2:8, ebenfalls gegen Leverkusen. Die Gäste aus der Chemiestadt mussten sich in der Pause dagegen ernsthaft mit dem Gedanken an eine weitere Saison im Abstiegssumpf aus­ein­andersetzen. „Wir sind nur hinterher gelaufen und überhaupt nicht in die Zweikämpfe gekommen“, erklärte der Leverkusener Trainer Heiko Herrlich nach der Partie.

Eine klare Niederlage wäre einem gängigen Muster des Fußballlebens gefolgt: Erst werden gute Leistungen nicht mit Punkten belohnt, irgendwann sind dann auch die Spiele schlecht, und schon ist eine Saison verkorkst.

Doch das Schöne an der Bundesliga ist derzeit bei aller Schwäche im Europapokal, dass diese Mechanismen gern ausgehebelt werden. Mittelklasseklubs wie Mönchengladbach, Schalke, Leverkusen, Wolfsburg, aber auch Köln, Hoffenheim oder Berlin können durch Verletzungen oder einfach nur durch Glück oder Pech innerhalb kürzester Zeit vom Existenzkampf in Erfolgseuphorie versetzt werden. Und wieder zurück.

Nachdem den Leverkusenern in der zweiten Hälfte fünf Treffer gelungen waren, sind sie plötzlich ein direkter Tabellennachbar der Borussia, die die Chance verpasste, den eigenen Vorsprung auszubauen.

Bei den Gladbachern wurde dann darüber debattiert, ob dieses Desaster auch passiert wäre, wenn Christoph Kramer nicht wegen einer unter der Woche erlittenen Oberschenkel­zerrung ausgefallen wäre. Auf der Doppelsechs spielten Denis Zakara, 20, und Mickaël Cuisance, 18, die in der Hektik der zweiten Hälfte die Partie nicht neu sortieren konnten. Hecking sprach von „jugendlichem Wahnsinn“ und kritisierte damit erfahrene Leute wie Matthias Ginter, Jannik Vestergaard, Lars Stindl oder Raffael, die auch keinen beruhigenden Einfluss nahmen, was auch an der plötzlichen Gier der Gäste lag. „Wir haben zum allerersten Mal gezeigt, was möglich ist“, sagte Herrlich.

Diese eine Halbzeit reicht nun aus, um Bayer Leverkusen wieder an eine erfolgreiche Saison glauben zu lassen. „Aber jetzt ist Kontinuität gefragt“, sagte Herrlich, der sich über fünf unterschiedliche Torschützen (Sven Bender, Leon Bailey, Kevin Vol­land, Julian Brand und Joel Pohjanpalo) freuen durfte.

Aber so, wie diese Saison läuft, kann das nächste Spiel die Grundstimmung schon wieder auf den Kopf stellen. Am kommenden Samstag wird der ums Überleben kämpfende 1. FC Köln zum Derby in Leverkusen er­wartet.

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