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Esther Slevogt betrachtet das Treiben auf Berlins Bühnen

Zuerst war er ein Held. Seine Denkmäler standen von Berlin bis Wladiwostok. Denn er war der Mann, der die Welt vom Kapitalismus befreien wollte. Mit der ersten Hälfte der Welt ging es seit 1917 voran, mit der Befreiung der zweiten Hälfte haperte es dann. Schließlich kam 1989 der Kapitalismus auch in die erste Hälfte zurück. Die Denkmäler wurden abgebaut: Goodbye Lenin. Und der Held galt in den Augen der Nachwelt nun fast als Verbrecher, weil sie gelernt hatte, dass kein Zweck mörderische Mittel heiligen kann. Ist also das historische Urteil über Lenin gesprochen, der Kapitalismus wirklich unbesiegbar? In der Schaubühne hat Milo Rau sich der Sache angenommen. Aber er veranstaltet mit „Lenin“ nicht, was er sonst gerne macht, ein Tribunal gegen Lenin oder den Kapitalismus, sondern eine Art postdramatisches Kammerspiel über Lenins letzte Lebenswochen. Als der 1923, also nur fünf Jahre nach der Oktoberrevolution, von Schlaganfällen gezeichnet in einer Datsche ja fast schon vegetierte, nur von wenigen Vertrauten noch umgeben (Schaubühne: Premiere 19. 10., 20 Uhr).

Eine Revolutionärin war auch Valerie Solanas. Das war die, die 1968 versuchte, Andy Warhol zu erschießen, von dem sie sich ausgenutzt fühlte. Und kurz darauf ein berühmtes feministisches Manifest verfasste: das SCUM-Manifest, das ausgeschrieben „Socie­ty for Cutting Men“ bedeutet: „Gesellschaft zur Zerstückelung von Männern“. Das war natürlich nicht ganz so ernst gemeint, wie es die meisten damals nahmen. Sieht man vom Warhol-Attentat einmal ab. Eigentlich richtete es sich fast mehr gegen eine bestimmte Art von Frauen, genauer gesagt: unterwürfige, männer­ergebene Weibchen und Sexbömbchen nämlich. Aber so richtig männerfreundlich war es natürlich auch nicht. „Kein Aspekt der Gesellschaft vermag die Frau zu interessieren“, konstatierte Solanas in ihrem Manifest. Daher bleibe den „aufgeklärten, verantwortungsbewussten und abenteuerlustigen Frauen nichts anderes übrig, als die Regierung zu stürzen, das Geldsystem abzuschaffen, die umfassende Automation einzuführen und das männliche Geschlecht zu vernichten.“ Was, unter uns, vielleicht nur bedingt erstrebenswert wäre. Nun ist das Pamphlet dort angekommen, wo es vielleicht von Anfang an hingehörte: im Theater nämlich. Ausgerechnet zwei Männer haben sich seiner dort angenommen: das Duo Jürgen Kuttner und Tom Kühnel, die ihn jetzt mit einem reinen Männer­ensemble theatralisch zu Leibe rücken und ihren Abend vorsichtshalber „Feminista, Baby!“ überschrieben haben (Kammerspiele des Deutschen Theaters: Premiere: 20. 10., 20 Uhr).

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