Eine Verrückte verstehen, einer Sterbenden beistehen, der Mensch ist nie allein, an der 30. Straße ein Partner in Crime, es herrscht Krieg, da gibt es nichts zu beschönigen, kein Spoileralarm nötig.

Wie auf den Pfoten einer hinkenden Katze

Maik denkt nach. So viel wie noch nie in seinem Leben. Er ist siebzehn Jahre alt, hat keinen Schimmer von dem, was er mal tun oder sein will. Eine Enttäuschung für jedermann, so sieht er sich selbst.

Aber jetzt sitzt er neben dem Bett einer kleinen alten Frau aus dem Dorf, die eben gestorben ist. Er blieb bei ihr bei ihren letzten Atemzügen, zum ersten Mal mit dem Gefühl, sich für etwas Richtiges entschieden zu haben. Und denkt jetzt über ihre Verrücktheit nach: „wenn man so alt wird, da falten sich die Eindrücke und Erinnerungen übereinander, weil sie gar nicht mehr genug Platz finden in einem einzelnen Menschen, und dann, wenn alles übereinanderliegt, dann wirkt der Mensch ein bisschen komisch.“

Eine Verrückte verstehen, einer Sterbenden beistehen, das ist ziemlich viel für einen Jungen in seinem Alter. Und längst noch nicht alles, was die Autorin Katrin Seddig Maik in den letzten Abschnitten ihres Romans „Das Dorf“, denken, erkennen und entscheiden lässt. Dabei erzählt sie von einem Sommer, in dem sich erst nichts zu ereignen schien, außer der Hitze. Jenny, zwölf Jahre alt, fährt mit Maik und seinem Moped durch die Gegend, beide entfliehen ihren alleinerziehenden Müttern. Sie sind nicht mal Freunde. Aber verbunden im Gefühl, keine Lust auf das zu haben, was man von ihnen erwartet.

Dieser neue Roman der Schriftstellerin Katrin Seddig ist toll. Er schleicht sich langsam an, wie auf den Pfoten einer hinkenden Katze. Erst passiert nichts, am Ende alles. Das Störrische, Unentschiedene ihrer Figuren hält einen anfangs auf Abstand. Aber plötzlich ist man ihnen nah. Hat sich ihre Haut übergestülpt.

Selbst die von Arno, vor dem man sich auch ein bisschen ekelt. Er ist mit Ehefrau und Kindern aufs Land gezogen, in der Hoffnung, dass alle zusammen dann besser in das Bild einer glücklichen Familie passen. Immer ahnend, dass seine krummen Geschäfte, Prostitution und Handel mit illegalen Arbeitern, der eigentliche Keil zwischen ihm und seiner Frau sind. Selbst Arno, mit all seinen Widersprüchen, wächst einem ans Herz.

Niemand in diesem Dorf lebt so, wie er sich das Leben eigentlich vorstellt. Dass sie sich mit diesen Vorstellungen selbst im Weg stehen, davon kann Katrin Seddig großartig erzählen. Mit Sätzen so einfach, als ob sie einem aus einem Jugendbuch vor die Füße purzeln. Dabei ist alles sehr kompliziert. Katrin Bettina Müller

Katrin Seddig: „Das Dorf“. Rowohlt.Berlin, Berlin 2017. 300 Seiten. 22,95 Euro

Stille, die in den Ohren pulsiert

Es herrscht Krieg, da gibt es nichts zu beschönigen: „Die meisten Kinder haben zwei ganze Beine und zwei ganze Arme, aber der kleine Sechsjährige, den Dinesh trug, hatte schon ein Bein verloren, das rechte knapp oberhalb des Knies, und jetzt würde er auch noch den rechten Arm verlieren.“ In schockierender Nüchternheit beginnt dieses Buch, das vom Krieg erzählt und von der Liebe. Es ist das Debüt des tamilischen Autors Anuk Arudpragasam, geboren 1988.

Es lässt sich leicht googeln, um welchen Krieg, wo und wann, es sich in seinem Roman handelt (Bürgerkrieg, Sri Lanka, 2009). Doch in Wahrheit ist das unerheblich. So unerheblich, dass der Roman die Fakten erst gar nicht beim Namen nennt. Es geht hier nicht um einen bestimmten Konflikt, ein bestimmtes Land, sondern um das Prinzip Krieg. Und das Prinzip Liebe. Hauptfigur ist ebenjener Dinesh, der den verletzten Jungen ins Lagerkrankenhaus bringt. Aus Dineshs Perspektive erleben wir die ganze Geschichte. Er macht sich nützlich in diesem Krieg, schaufelt Gräber, spielt das Mädchen für alles, und als ein Mann auf ihn zukommt und ihn bittet, seine Tochter zu heiraten, sagt er nicht Nein. Die nicht Auserwählte heißt Ganga, eine hagere, junge, schüchterne Frau.

Dass ihre Ehe kurz sein wird, verrät schon der Titel des Romans. Sie heiraten auf die Schnelle, verbringen eine und doch keine Nacht miteinander, ehe sie schon wieder auseinandergerissen werden. Hier ist kein Spoileralarm nötig, geht es in diesem Buch doch nur am Rande um das Was, dafür aber in jedem Satz um das Wie.

Mit Umsicht, ja Achtsamkeit beugt sich dieser Autor nämlich über das Geschehen. In einer zentralen Szene erleben die Leser mit, wie Dinesh ein Bad nimmt, beziehungsweise sich und seine Kleidung mit einem kleinen Stück Seife ausgiebig wäscht. Minutiös und übergenau vollzieht der Text diese Waschung. Zur Geduldsprobe kann auch das Reiskochen mit Ganga werden, das der Autor haarklein beschreibt. Das tut er in aller Unschuld und Unerschütterlichkeit. Beides steht in krassem Kontrast zu den regelmäßig ringsherum einschlagenden Granaten und Bomben, den Grausamkeiten des Krieges sowie zum mit­unter zur Drastik neigenden Ton.

Wie Ruheinseln nehmen sich diese ­präzise eingefassten Alltagsbeschreibungen inmitten des Kriegslärms aus. Sie erst geben dem Ganzen Stabilität, und so nimmt es nicht wunder, dass die Stille in diesem Roman allerorten beschworen wird. Es ist eine Stille, die in den Ohren pulsiert.

Auch die Ehe von Dinesh und Ganga scheint eine solche Ruheinsel, buchstäblich formen sie sich eine als Schlafstatt, auf der sie eng beieinander liegen. Dabei ängstigt Arudpragasam sich nicht vor großen Gefühlen, zuweilen leuchtet er seine zentralen Themen Schutzbedürftigkeit versus Schutzlosigkeit sehr weich und deutlich aus. Szenen, in denen er mit anteilnehmender Zärtlichkeit versehrte Tiere, mal eine Krähe, mal einen Gecko, inbrünstig fokussiert, bleiben im Gedächtnis haften. Kurz: Zwischen Antikriegsroman und Liebesgeschichte vollzieht sich in diesem staunenswerten Debütroman das Leben.

Shirin Sojitrawalla

Anuk Arudpragasam: „Die Geschichte einer kurzen Ehe“. Aus dem Englischen von Hannes Meyer. Verlag Hanser Berlin, 2017, 222 Seiten, 22 Euro.

Zähne und HipHop-Überbietungs-Labern

Fa Kiu ist kantonesisch und heißt Blumenampel. Damit lässt sich auf dem blumengeschmückten Schulhof der chinesischen Middle School in San Francisco fluchen, ohne dass man sich verdächtig macht: Man sagt Fuck you, meint aber natürlich die Blumenampel! Nur einer der komischen Aspekte aus „Wie man es vermasselt“, dem Erzähldebüt des Kaliforniers George Watsky.

Als Rapper (dessen neues Album von Anderson .Paak produziert wurde) kann Watsky Erfolge vorweisen. Dass der 31-Jährige auch schreiben kann, zeigen seine dreizehn lose zusammenhängenden Short Stories. Sie orchestrieren typische Coming-of-Age-Themen wie Aufsässigkeit, Prokrastination und Sex. Es geht dabei weniger um Gefühlsduselei und mehr um Atzen-Humor. Allerdings bereichert Watsky den asozialen Geltungsdrang von HipHop, indem er bei seinem autobiografischen Ich Verletzlichkeit zulässt, was nicht nur für Rap-sozialisierte Twentysomethings heilsam erscheint. Und ein bisschen durchgeknallt ist er auch: Wer wie Watsky den eigenen Mund mit einem „Kerker“ assoziiert, „kiefer-orthopädischen Fesseln und … Schulessen-Mundgeruch“, hat garantiert schon mal Rap gehört und Horrorfilme gesehen.

Watsky, der aus einem liberalen jüdischen Elternhaus stammt, ist in San ­Francisco geboren und ging übrigens auf die chinesische Realschule, was ihn ­mitsamt Zahnspange zum Außenseiter gemacht hat. „Ich versuchte den Spott zu neutralisieren, indem ich mich exponierte.“ Zähne und HipHop-Überbietungs-Labern spielen auch in anderen Geschichten eine Rolle. Etwa, als er einen Narwalstoßzahn für seine stoßzähnesammelnde Tante aus Kanada schmuggelt, was auch klappt. Bis Wyo­ming, wo ein Polizist ­Watskys Auto filzt, das Elfenbein übersieht, aber eine Haschpfeife konfisziert, die er aus Ver­gesslichkeit in seinem Rucksack mitgeführt hat, ein Gefängnisaufenthalt ist die Folge.

Alles findet hier nebeneinander statt. Glamour und Impotenz, Akne und Karl Marx. Zynisch beschreibt Watsky, wie er mit seinem Spoken-Word-Programm in den College-Towns der Provinz Studen­tinnen aufreißt. In der nächsten Story wird bei ihm Epilepsie prognostiziert, was zu bizarren Anfällen an den unmöglichsten Orten führt. Wieder sind Zähne in Gefahr. Während er den indischen Bundesstaat Kerala mit zwei Kumpels bereist, weil ihn die linke Vergangenheit und Gegenwart der Region interessiert, denkt Watsky an seine Pickel: Als er mit Mamas Schminke die Pusteln auf dem Highschool-Klo überdeckt, bevor er im Geschichtsunterricht wieder dem revolutionären Zyklus von Marx lauscht. Man liest das erst etwas widerwillig, aber dem subtilen Humor, dem erzählerischen Talent und dem waghalsigen Drive von Watskys Geschichten ist nicht so leicht zu entkommen.Julian Weber

George Watsky: „Wie man es vermasselt“. Aus dem Amerikanischen von Jenny Merling. Diogenes Verlag, Zürich, 2017, 333 S., 22 Euro

Bekloppt oder macht man das so im Westen?

Wer begreifen möchte, woher das derzeit diskutierte Abständige zum Gesamtdeutschen vieler Ostdeutscher rührt, sollte Bangels Coming-of-Age-Roman „Oder Florida“ lesen. Er ist ziemlich gut.

Sein Held trägt den sprechenden Namen Matthias Freier. Der ist zwanzig, lebt in Frankfurt an der Oder und versucht Ende der Neunzigerjahre, seinen Platz im wiedervereinigten Land zu finden. Schwierig, wenn man in dieser Situation Bewohner der östlichsten Stadt ist, die alles hat, was das Klischee hergibt: Arbeitslosigkeit, Abwanderung, Nazis. Noch viel schwieriger, wenn man ein sensibler Jungmann ist, der eine Nachwendekindheit hinter sich und eine ungewisse Zukunft vor sich hat.

Freier erlebt 1998 einen kurzen Sommer der Anarchie in Frankfurt. Er wird durch einen Zufall Pressesprecher eines Turbokapitalisten, dem für sein Portfolio einzig ein Posten in der Politik fehlt. Franziskus heißt er. In seiner hemdsärmeligen Arschlochigkeit vereint der Autor in dieser Figur ein irre Kombination aus Widerlichkeit und Bescheidwissertum, wie man sie häufiger antraf zu dieser Zeit. Wie den meisten fehlt auch dem Ostler Freier die Erfahrung: Ist der Typ bekloppt, oder macht man das so im Westen?

Man ahnt: für Matthias Freier wird es irgendwie gut ausgehen. Er ist klug und sensibel, für Leute wie ihn hält das neue Land Möglichkeiten bereit. Trauriger sieht es für Freiers Eltern aus. Die Mutter arbeitet in einem Callcenter, Freiers Telefonate mit ihr sind mit das Anrührendste in dem Buch. Man ahnt, man weiß: für diese fürsorgliche und zauberhafte Frau geht es nur noch bergab.

Gehen oder bleiben – am Ende versucht es Freier in Hamburg, wo er sich bei einem Zoohandels-Tycoon in die selbst gewählte, kafkaeske Sklaverei begibt. Er will den Westen begreifen. Von seinen Kollegen wird er Udo genannt; der Name ist eine Abkürzung für „Unser dummer Ossi“.

Klingt furchtbar, ist furchtbar. Und doch. Ein Jammerossi wird dieser Freier nicht. Er zweifelt und er kämpft. Er findet Trost beim Dönermann und in den Liedern der Band Fink. Und so ist auch dieses Buch: wie ein sehr guter Song, den man an melancholischen Sonntagnachmittagen in Dauerschleife hören möchte. Anja Maier

Christian Bangel: „Oder Florida“. Piper, München 2017. 352 Seiten, 18 Euro

Zwischen allen Fronten

Sie enttarnte den IS-Henker „Jihadi John“, traf sich mit hochrangigen Terrorchefs und spannte ihr Netzwerk über den gesamten Nahen Osten, Europa und die USA.

Die Karriere der Journalistin Souad Mekhennet begann 2001 mit einer simplen Frage: „Warum hassen die uns so sehr?“ Die Muslimin konnte der Ehefrau eines bei den 9/11-Attentaten verstorbenen Feuerwehrmannes keine Antwort geben. In Deutschland aufgewachsen und in einer offenen türkisch-marokkanischen Familie groß geworden, war ihr die Ideologie der Attentäter fremd.

Für die US-amerikanischen Zeitungen war sie ein Glücksgriff. Leidenschaftlich und getrieben von ihrem eigenen Unverständnis begann Mekhennet mit ihrer Arbeit. Für die Washington Post recherchierte sie über die Hamburger Zelle der Terroristen und zeichnete so deren Weg in Deutschland nach. Seither stand sie unzählige Male allein in den Straßen des Nahen Ostens. Bekleidet mit einer Abaya, mit nichts als einer mündlichen Garantie über ihre Sicherheit wartete sie auf Informanten oder traf sich zu Interviews mit hochrangigen Dschihadisten.

Mekhennet arbeitet in ihrem Memoir den Terror der vergangenen Dekaden autobiografisch ab. Ihre Verbindungen reichen bis in die höchsten Kreise al-Quaidas, der Taliban und des IS. Sie schrieb für westliche Medien über die CIA-Folterungen, die kom­plexen politischen Strukturen des ­Nahen Ostens und sah junge Europäer zu IS-Kämpfern mutieren. Der Terror zieht sich durch das berufliche und private Leben der Ausnahmejournalistin. Sie verlor 2016 einen Verwandten an den Münchner Atten­täter, der IS tötete einen ihrer Kollegen und sie selbst entkam mehrmals knapp dem Tod.

Ungeschönt und hautnah lassen ihre Recherchen die Konflikte dieser Welt nachvollziehen. Die Frage der US-Amerikanerin beantwortet das Buch in seiner Gesamtheit. Fernab von ­Schwarzweißmalerei und simplen Thesen.

Verena Krippner

Souad Mekhennet: „Nur wenn du allein kommst“. Aus d. Engl. v. Sky Nonhoff. C. H. Beck, München 2017, 384 S., 24,95 Euro

Partnerin Crime

Der Mensch ist nie allein. Ob als Teil einer Familie oder Knotenpunkt in Netzwerken – all seine Handlungen sind von seiner sozialen Umwelt bestimmt. Doch vor Gericht, so die zentrale Problemstellung in „Verurteilen. Der strafende Staat und die Soziologie“, wird er als Einzelwesen behandelt. Das neue Buch des französischen Philosophen Geoffroy de Lagasnerie ist eine kritische Reflexion über den strafenden Staat, die auf der Beobachtung etlicher Gerichtsverhandlungen in Paris basiert.

Das klingt zäh, ist aber eine erhellende Lektüre über das, was es bedeutet, in einem Rechtsstaat zu leben. Denn auf seiner Hauptbühne, dem Gericht, spürt das Subjekt dessen ganze Gewalt. Sie liegt in der Diskrepanz zwischen der Rechtslogik und der Wirklichkeit. Urteile werden stets individualistisch begründet, aber zugleich als Angriff auf die Gesellschaft verstanden. Eine soziologische Erklärung, die die Umwelt und das Milieu des Angeklagten mitbedenkt, würde nie herangezogen.

So wurde ein Obdachloser, dessen Gewalthandlungen ohne Tötungsabsicht zum Tod führten, zu sechs Jahren Haft verurteilt, obwohl bei der Schlägerei vier Personen beteiligt waren. Aspekte wie Gruppendynamik oder das Milieu und ihr Verhältnis zu Gewalt und Alkohol wurden nicht berücksichtigt. Zu Wort kam der Mann nur, um Eckdaten zu nennen: Geburtsort, Beruf der Eltern, Bildung, Beziehungsstatus – eine Verkürzung der Biografie auf institutionelle Posi­tio­nen. Das zugehörige, Klischees abnickende psychologische Gutachten, das alles Soziologische ausblendet, ist nichts als eine gesellschaftlich orchestrierte Verbeugung vor der Zeugenaussage des Experten.

Geoffroy de Lagasneries Kritik an jener struktu­rellen, unhinterfragten Gewalt ist be­rechtigt. ­Manchmal aber driftet das komplexe, aber verständliche Buch ins Polemische. Etwa mit Nietzsche als partner in crime. Man müsse Dinge wieder klar benennen, statt zu ­verschleiern: Der Staat verurteile nicht zum Tod, er morde. Er verhafte nicht, er kidnappe.

Die revolutionäre Chuzpe, mit der sich der ­Jungstar der Pariser Intellektuellen hier aus dem ­Fenster lehnt, damit die Soziologie endlich wieder ihre anti­institutionelle und destabilisierende Wirkung entfaltet, ist ansteckend.

Philipp Rhensius

Geoffroy de Lagasnerie: „Verurteilen. Der strafende Staat und die Soziologie“. Aus d. Franz. v. Jürgen Schröder. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017, 271 S., 26 Euro

Vermessung der Gegenwart

Es scheint, als gehörten gedruckte Karten einer aussterbenden Spezies an. Wer will noch umständlich im Atlas wühlen, wenn der Routenfinder zuverlässig den Weg anzeigt?

Doch Karten können viel mehr, als nur die Oberfläche aufzuzeigen. Wenn die Kartografen es wollen, dann erzählen sie Geschichte. Sie bieten auf kleinem Raum mehr Informationen als manch dicke Bücher. Sie regen zur Fantasie an. Und sie erzählen bisweilen die Geschichte hinter der Geschichte. Das beweist Alastair Bonnett mit seinem opulenten Werk „Atlas unserer Zeit“.

Dass Fettleibigkeit zu den größten Gesundheitsproblemen in entwickelten Staaten zählt, weiß so ziemlich jeder. Bonnet aber veröffentlicht dazu eine „Weltkarte der Fettleibigkeit“, die aufzeigt, dass eben nicht nur die US-Amerikaner zu den dicksten Menschen zählen, sondern auch die Bewohner südlich des Persischen Golfs. Die Vielfalt der Vogelarten – insgesamt sind es 112.665, wie Bonnett akribisch schreibt – wiederum sagt nicht nur einiges über das jeweilige Klima in den Regionen aus, sondern verweist auch auf Klimawandel, Umweltveränderungen und Artenschutz.

Dabei sind es keineswegs nur vermeintlich exotische Fragestellungen, die Bonnet mit diesem Buch zu beantworten sucht. Eine Landkarte der Friedfertigkeit fehlt bei ihm ebenso wenig wie ein Vergleich beim Waffenbesitz. Nur eines wird schmerzlich vermisst, wenn man die Karten zur „Vermessung der Gegenwart“ beim weltweiten Vergleich von Feuersbrünsten, der Luftverschmutzung oder dem Zuckerkonsum nach Ländern untersucht: Eine ganz normale Landkarte mit den Umrissen der Staaten sucht man vergeblich. Klaus Hillenbrand

Alastair Bonnet: „Atlas unserer Zeit“. Aus d. Engl. v. Theresia Übelhör. DuMont Verlag, Köln 2017, 224 S., 29 Euro

Weg zum Ende der Stadt

Leanne Shaptons Ansichten von Manhattan zeigen nichts von dem, was gewöhnlich den Mythos New York ausmacht. Das fängt schon bei den Farben ihres Aquarellkastens an: Außer einem sehr dünnflüssigen Schwarz, das auf der weißen Buchseite eher bräunlich oder grau wirkt, gibt es dort offenbar nur ein schönes kräftiges Orange, mit dem sie minimale Akzente setzt. Nummern und Uhrzeiten machen ihr Manhattan aus, aber vor allem abstrakte Formen wie Balken, Quadrate und überdachte Dreiecke, die wie Eistüten ausschauen, Gitterstrukturen, Blasen und florale Ornamente, schließlich Wörter, Straßennamen und gut erkennbar zwei in einander verkeilte Monobloc-Plastiksessel.

Im Text dazu verrät Niklas Maak, dass der Franzose Henri Massonnet mit ihm 1973 den erfolgreichsten Stuhl der Welt erfand. Jeder kennt ihn. Er steht überall herum. Unvermeidlich, dass man ihm auch bei einem Gang „Durch Manhattan“ begegnet, wie ihn die New Yorker Künstlerin und der Berliner Autor und FAZ-Redakteur gemeinsam unternahmen. Ihre zweitägige Wanderung, die sie schnurstracks vom südlichsten Punkt der Insel bis zu ihrem nördlichsten führte, resultiert nun in einem höchst illustrativen Stadtführer voll überraschender Beobachtungen und kluger Überlegungen.

Sie gelten dem Staten Island Ferry ­Terminal, Hausnummern und den am Straßenrand geparkten Autos, dazu der Geschichte ­Manhattans und der des „Fanelli’s“ in Little Italy, das 1847 ein Lebens­mittelgeschäft war und in den 1960er Jahren Arbeiterkneipe und Künstlerlokal, schließlich Sophia und Herrn Lau, die beide in Chinatown arbeiten, und Alexa, die in den Wohntürmen der Smart City zu Hause ist, an der 30. Straße, als die neuen Rendite­wunder weit in den ­Himmel emporwachsen. Und hier, wo Manhattan nicht mehr Stadt-, sondern nur noch ­Roboterorganismus ist, ­gelangt der Spaziergang eigentlich schon an sein Ende. Fortan begleitet unabweislich ein verzweifeltes ­Gefühl der Nostalgie den Weg hoch bis zur 220. Straße. Aber das ist nicht Niklas Maaks oder Leanne Shaptons Schuld. Brigitte Werneburg

Niklas Maak, Leanne Shapton: „Durch Manhattan“. Carl Hanser Verlag, München 2017, 224 Seiten, 25 Euro