: Wen wählen die MigrantInnen?
Die Deutschtürken stellen etwa eine halbe Million Stimmberechtigte. Bei einem knappen Wahlausgang könnten sie durchaus entscheidend sein. Kann sich die SPD noch auf diese Voten verlassen? Schätzungen sehen Verluste in Richtung Linkspartei
AUS BERLIN SABINE AM ORDE
Inzwischen kennt Ahmet Iyidirli die Situation. Wo immer der SPD-Mann im Wahlkampf um die Stimmen seiner Community wirbt – auf den Multikulti-Märkten, in Moscheen, auf türkischsprachigen Podien – er erntet Kritik. Für das neue Staatsbürgerschaftsrecht, das den Doppelpass unmöglich macht – und vor allem für die Agenda 2010. „Hartz IV ist hier extrem unpopulär“, sagt Iyidirli. Hier, das ist Berlin-Kreuzberg, wo die Hauptstadt besonders multikulturell ist. Und besonders arm. Hier lebt Iyidirli seit 25 Jahren, genau so lange ist er Mitglied der SPD. Jetzt soll der Sozialarbeiter als Direktkandidat den Wahlbezirk für seine Partei gewinnen. Besonders aussichtsreich ist das nicht. Denn in Kreuzberg-Friedrichshain-Prenzlauer Berg Ost, wie der Wahlbezirk offiziell heißt, treten auch der Grüne Christian Ströbele an und die populäre Bezirksbürgermeisterin von der Linkspartei. In Umfragen liegen die beiden vorn.
Die Gruppe türkischstämmiger Deutscher, die in den Bundestag einziehen wollen, wächst zusehends. In Berlin tritt neben Iyidirli Özcan Mutlu an, der für die Grünen bereits im Berliner Abgeordnetenhaus sitzt. Die Linkspartei schickt Hakki Keskin ins Rennen, den Exvorsitzenden der Türkischen Gemeinde in Deutschland (TGD).
Zwischen 450.000 und 600.000 liege die Zahl der wahlberechtigten türkischstämmigen Deutschen, so heißt es in Schätzungen. Das ist nicht viel, doch wenn es sehr knapp wird, dann könnten die Deutschtürken den Ausschlag geben. Das gilt besonders für einige Wahlkreise in Berlin, Köln und anderen Großstädten.
2002 gewann die SPD die Wahl mit einem minimalen Vorsprung. Das Wall Street Journal bezeichnete die Deutschtürken damals als „Schröder's Secret Weapon“. Einen Gedanken, den nun die Bild-Zeitung aufgreift: „Entscheiden Türken die Wahl?“, fragte Bild auf der Titelseite ihrer gestrigen Ausgabe. Traditionell kann sich die SPD auf die Deutschtürken verlassen. „Es gibt eine ganz starke Bindung an die Gewerkschaften und an die Sozialdemokratie“, sagt Andreas Wüst von der Forschungsgruppe Wahlen. Er hat 2002 die Präferenzen der Deutschtürken untersucht. Bei der letzten Bundestagswahl wollten demnach 62 Prozent der türkischstämmigen Wähler für die SPD votieren. Wie die Wahlabsichten heute aussehen, hat niemand erhoben. Politologe Wüst vermutet aber, dass die SPD an die Linkspartei verlieren wird. „Maximal 15 Prozent“, schätzt Wüst, könne die Linkspartei bei den Deutschtürken holen.
Dazu könnte auch beitragen, dass die Türkische Gemeinde Deutschland (TGD), die säkulare, überparteiliche Dachorganisation der türkischen Einwanderer, eine Wahlempfehlung für die Linkspartei ausgesprochen hat.
Darauf setzt Hakki Keskin. Der Hamburger Hochschullehrer war viele Jahre Vorsitzender der TGD – und SPD-Abgeordneter in Hamburg. Schon bevor er „wegen der sozialen Gerechtigkeit“ aus der Partei austrat, bot PDS-Parteichef Lothar Bisky dem prominenten Migranten einen sicheren Listenplatz in Berlin an.
Für Unruhe dürfte die Sympathie der Deutschtürken für die Linkspartei auch bei der CDU sorgen. Dass die CDU ein Problem bei dieser Wählergruppe hat, hat sie spätestens 2002 registriert: „Bei einem besseren Abschneiden der Union in dieser Gruppe hätte sie stärkste Partei werden können“, mahnte damals bereits ein Papier der Konrad-Adenauer-Stiftung. Mit der Ablehnung des EU-Betritts der Türkei hat die Union sich inzwischen eher mehr Feinde gemacht, meint Autor Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf: „Die privilegierte Partnerschaft wird als Ablehnung empfunden“, sagt Wilamowitz-Moellendorf.
Für den Grünen Özcan Mutlu ist das ein Paradox. Viele Türken in Deutschland seien konservativ, sagt Mutlu – und damit doch natürliche Wähler der CDU. Doch diese schrecke die Deutschtürken ab.
Vielleicht also hilft ihre klare Haltung zum EU-Beitritt den Sozialdemokraten, die türkischstämmigen Wähler trotz aller Enttäuschungen nicht zu verprellen. Nach einer Umfrage der Zeitung Hürriyet, die am Dienstag veröffentlicht wurde, wollen jedenfalls 77 Prozent der Leser der SPD ihre Stimme geben, 9,2 Prozent der Grünen und 7,8 Prozent der Linkspartei. Bei der CDU planen gerade 4,8 Prozent, ihr Kreuzchen zu machen, und bei der FDP 1,2 Prozent. Vielleicht gibt das Ahmet Iyidirli den Schwung für die letzten Tage. Aber gewappnet ist der Sozialdemokrat sowieso: „Wenn ich ehrlich bin“, sagt er, „habe ich mir diesen ganzen Wahlkampf noch viel schlimmer vorgestellt.“