: 20 Jahre MauerfallUnversehens an der Macht
Berndt Seite, ehemals Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern, hat eine Autobiografie geschriebenAUTOBIOGRAFIE Berndt Seite ist einer der Politiker aus dem Osten, die nach der Wende an die Macht kamen. Was die Macht mit ihm gemacht hat, erzählt Seite in seinem Buch „Schneeengel frieren nicht“
■ Flüchtlingskind: In Schlesien geboren, im Winter 1944 / 1945 mit einem Treck auf das Gebiet der ehemaligen DDR gelangt.
■ Tierarzt: Nach dem Studium in Berlin versorgt er die Tiere der LPGs zwischen der Müritz und dem Plauer See in Mecklenburg.
■ Synodaler: 1974 wird Seite in die Landessynode – das Kirchenparlament – der evangelischen Landeskirche Mecklenburgs gewählt. In dieser Funktion reist er mehrfach in den Westen.
■ Bürgerrechtler: Im Herbst 1989 gründet Seite mit anderen eine lokale Gruppe des Neuen Forums und ruft im Oktober 1989 zu Demonstrationen auf.
■ Politiker: 1990 tritt er der CDU bei und wird Landrat des Kreises Röbel. Von Herbst 1991 bis Frühjahr 1992 ist er Generalsekretär der CDU Mecklenburg-Vorpommerns, von 1992 bis 1998 Ministerpräsident des Landes. In seine Amtszeit fallen die Angriffe auf das Vietnamesen-Wohnheim in Rostock-Lichtenhagen.
■ Dichter: Nach dem Ende seiner politischen Karriere veröffentlicht Seite eine Erzählung und mehrere Gedichtbände.
VON GERNOT KNÖDLER
Dies ist keine typische Politiker-Autobiografie, wie sie, von Ghostwritern verfasst, unters Volk gebracht werden. Aber der der CDU-Politiker Berndt Seite, von 1992 bis 1998 Ministerpräsident Mecklenburg-Vorpommerns, ist auch kein typischer Politiker. Er ist ein Tierarzt mit literarischen Ambitionen, der unversehens in die oberste Ebene der bundesdeutschen Politik katapultiert wurde – zwar nicht ganz ohne politische Erfahrung, aber mit einer, die sich aus ganz anderen Quellen speist, als die westdeutscher Politiker. Entsprechend wirft er einen Blick auf sein Leben, durchzogen von lyrischen Passagen, von Traumsequenzen, von assoziativen Sprüngen und von atmosphärischen Erinnerungen.
Seite erzählt von seinen Wurzeln in Schlesien und wie er sich als Fünfjähriger bei der Flucht die Zehen erfror, als das Fuhrwerk der Familie umstürzte. Die Gutsherrschaft war nicht bereit, ihn und seine kleine Schwester auf ihrem Wagen mitzunehmen. Er schildert Szenen aus seiner Kinderwelt, in der sich bisweilen Traum und Wirklichkeit vermischen: Wie er beim Umzug auf Abwege gerät und sich von einer Spieluhr in einem Wirtshaus verzaubern lässt. Als Junge durchstreift er die Natur, um Fallen zu stellen. Das liefert ihm Metaphern für sein späteres Agieren als Politiker. „Die Welt ist voller Zeichen“, schreibt Seite.
Schon Seites Vater, ein selbständiger Bauer, trug sich mit Fluchtgedanken, und die Frage „Gehen oder Bleiben?“ durchzieht Seites Leben bis zur Wende. Der junge Mann beginnt 1958 in Berlin an der Humboldt-Universität zu studieren. Der glitzernde Westteil der Stadt fasziniert ihn wie andere Studenten auch. Zugleich fühlt er sich dem Osten so weit verbunden, dass er die DDR bei einer Kneipendiskussion im Wedding verteidigt. Zurück in Ostberlin zeigt ihm sein unbekannter Mitstreiter einen Stasi-Ausweis, klopft ihm auf die Schulter und sagt: „Du hast Dich wacker geschlagen.“
Seite wird noch viele demütigende Erlebnisse mit der SED-Diktatur haben, er wird noch viele persönliche Niederlagen erleben, doch eine aus der Zeit nach dem Mauerbau wird zum Schlüsselerlebnis: Weil er sich zu einer Menschenmenge ans Ufer der Spree gesellt hat, verhaften ihn Grenzsoldaten. Er wird verhört, unter Druck gesetzt und gezwungen, sich zu verleugnen. Am Ende wird er unter dem Hinweis auf seine Privilegien und seine Verantwortung als sozialistischer Intelligenzler mit einer Drohung entlassen. „Uniformträger mit mecklenburgischem Akzent ließen ihn später immer aufhorchen“, schreibt Seite von sich in der dritten Person.
Er und seine Frau erhalten Tierarzt-Stellen in der mecklenburgischen Provinz, ein kleines Häuschen dazu, ein gesichertes Leben. Als er gefragt wird, ob er für die Landessynode der evangelischen Kirche kandidieren will, sagt er ja. Seite ist kein besonders gläubiger Mensch, aber er zahlt Kirchensteuer und besucht an hohen Feiertagen den Gottesdienst – was in der DDR schon einer Widerstandshandlung gleichkommt. Er wird gewählt. Die Erfahrungen, die er im Kirchenparlament sammelt, helfen ihm bei seiner politischen Karriere nach der Wende.
Die Privilegien, die er als Synoden-Mitglied genießt – Gestaltungsmöglichkeiten, Reisen in den Westen, sogar in die USA – muss er bezahlen. Seite und seine Frau werden bespitzelt, in einem Ausmaß, das ihm erst nach der Wende klar wird. Einen perversen Sieg kann die Stasi feiern, als Seite 1993, um sein Amt als Ministerpräsident zu behalten, seine Stasi-Akte vor einem Parlamentsausschuss verlesen lässt. Sein Innenminister Georg Diederich hatte ihm vorgeworfen, Inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit gewesen zu sein. Seite sah keinen anderen Weg mehr, sich politisch zur Wehr zu setzen. Die Berichte über sein Familienleben, das psychologische Sezieren der eigenen Person empfinden Seite und seine Frau Annemarie als ungeheure Demütigung. Seite bekommt von ihnen Alpträume.
Die Beziehung des Ehepaars Seite ist nicht nur in der Diktatur starken Belastungsproben ausgesetzt, sondern fast noch mehr in Seites Zeit als Ministerpräsident, in der ihn die Politik aufsaugt. Ins Amt gelangt er quasi über Nacht: Seite ist seit einem knappen halben Jahr Generalsekretär der Landes-CDU, als Ministerpräsident Alfred Gomolka sich nicht mehr halten kann. Seite hat gerade eine Rede irgendwo auf dem Dorf gehalten, als ihn Landesparteichef Günter Kraus fragen lässt, ob er nicht als Ministerpräsident kandidieren wolle. In der Garderobe einer Gastwirtschaft entscheidet er sich dafür.
Seites Aufstieg war wendebedingt rasant. Nur drei Jahre zuvor hatte er als Landrat zum ersten Mal ein Büro der alten Machthaber übernommen, im Herbst davor, noch voller Furcht, sich zum ersten Mal Zutritt zur Villa der Staatssicherheit des Kreises verschafft. Die Mitarbeiter verbrannten die Akten, die sie angelegt hatten.
Vom Neuen Forum war Seite zur CDU gewechselt, weil er für die Bürgerbewegung bei den Wahlen keine Chancen sah. Einige seiner früheren Mitstreiter empfanden das als Verrat. Seite fand problematischer, dass in der CDU noch so viele Mitglieder aus DDR-Zeiten aktiv waren. Als er sich dafür entscheidet, als Ministerpräsident zu kandidieren, stärkte ihm seine Frau den Rücken.
Seine Amtszeit schildert Seite als zunehmende Vereinsamung und Entfremdung von sich selbst. Das lässt sich auch an der Art der Darstellung ablesen: Sie wirkt insgesamt weniger lebendig – auch wenn Seite weiterhin seine kleinen Fluchten in die Natur beschreibt und seinen Beklemmungen bildhaft Ausdruck verleiht. Das Spiel um die Macht lässt auch die Sprache erkalten. Seite muss taktieren, harte Entscheidungen treffen und Leute entlassen – und so liest es sich auch.
Und doch ist der Blick, mit dem er aus dem Innenleben der Macht berichtet, der eines Fremdlings. Als er einmal ein Präsent des Präsidenten der Fleisch verarbeitenden Industrie ungeöffnet mit nach Hause nimmt, wird deutlich, wie dünn das Eis ist, auf dem sich Spitzenpolitiker bewegen. In dem Päckchen stecken Geldbündel. In Rostock-Lichtenhagen wird tagelang ein Asylbewerberheim belagert. Hierzu fällt Seite auch im Nachhinein nicht viel ein. Er schiebt die Schuld auf die Unfähigkeit seines Innenministers Lothar Kupfer.
Zu einer politischen Niederlage wurde für Seite die Begegnung mit Friedrich Hennemann, dem windigen Chef der Bremer Vulkanwerft. Hennemann versprach, die Werften im Osten zu retten, und kaufte von der Treuhand die Werft in Wismar samt dem dazu gehörenden Motorenwerk. Die für die Sanierung vorgesehenen Subventionen lenkte er in seine Bremer Werft um – und rettete am Ende auch diese nicht.
Erhellend ist der Außenseiter-Blick, den Seite auf den im Prinzip ja westdeutschen Politikbetrieb wirft: Als Martin Walser seine Moralkeulen-Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels hält, klatschen alle – auch der neben im sitzende Vorsitzende des Zentralrates der Juden, Ignaz Bubis. Anschließend sagt Bubis, der Referent könne sich auf etwas gefasst machen. Am nächsten Tag läuft die mediale Empörungsmaschine an. Walser wird vorgeworfen, er wolle die Deutschen von der Schuld des Nationalsozialismus frei sprechen. Er hatte gesagt, dass der Hinweis auf die deutsche Schande häufig instrumentalisiert werde.
Seite fühlt im Stillen mit Walser: „Er fragte sich, wer diese selbst ernannten Richter waren, die über den Holocaust und über jede Interpretation wachten.“ Von einem Land, das sich nichts zutraue, sich nicht mit seinen Errungenschaften und Niederlagen auseinandersetze, so seine Prophezeiung, „werden sich die Nachgeborenen vor Überdruss abwenden“.
Berndt Seite: „Schneeengel frieren nicht“, Verlag Theater der Zeit