Esther Slevogt
betrachtet das Treiben auf Berlins Bühnen
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Leben wir noch in einer Demokratie, wo das vernünftige Gleichgewicht der Kräfte, faktengesteuerte Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse das Zusammenleben organisieren? Oder herrscht längst eine Diktatur der Gefühle, deren Wallungen täglich Millio­nen Gigabites im Netz neu besetzen, auf Soundwolken, durch Video- oder Social-Media-Kanäle in unser Leben gespült werden? Wo uns die Gefühlstsunamis der anderen selbst emotional zerrütten, Trump via Twitterwutausbrüche internationale Krisen auslöst und wir mal dies und mal jenes meinen, im Großen und Ganzen aber ein diffuses Gefühl der Verwirrung herrscht? „Emocracy“ hat das Theaterkollektiv Interobang jedenfalls seinen neuen Abend überschrieben, also im Titel die Worte Emotion und Demokratie miteinander verschmolzen. In „Emocracy“ wollen die Performer*innen ein Panorama von Lebensmöglichkeiten und Alltagsszenen entwerfen. Das Publikum kann dann in Echtzeit darauf reagieren und mit Abstimmungen und Aktionen die Erzählungen lenken oder bewerten und sich so in Zukunftsgestaltung üben. „Emocray“ ist Teil des Drei-Länder-Projekts „Brauchen wir einen neuen Gesellschaftsvertrag“, in dessen Kontext „Interrobang“ unter anderem mit dem Moskauer Teatr.doc kooperiert, das in der Vergangenheit immer mal wieder ins Visier der Putin-Adminis­tration geriet („Emocracy“: Sophiensæle:, 11., 13. & 14. 10., jeweils 19.30 Uhr).

Der Kontinent Europa, dessen blaugrundierter Sternenkranz eben noch Symbol für friedlich vereinte Staaten war, ist inkontinent geworden. Es bröckelt an den Rändern. Die Briten brexeln, die Katalanen und Spanier streiten mörderisch, Polen und Ungarn rebellieren gegen Brüssel, in dem sie ein neues Moskau sehen: eine bevormundende Großmacht, gegen die die pubertierenden Neudemokratien Osteuropas nun trotzig aufstehen. Alles nicht so einfach gerade. „Mythos Europa | Inkontinent“ hat Jörg Laue einen Abend genannt, den er mit seiner Lose Combo realisiert und mit dem er den multiplen europäischen Krisen ein neues Europabild entgegensetzen möchte. Dazu bemüht er noch einmal den Gründungsmythos von der entführten Königstochter Europa. Aber auch Bachs „Kunst der Fuge“ soll in der multimedialen Konzertperformance zum Einsatz kommen, die in dieser Woche an einem der verwunschensten Veranstaltungsorte in Mitte zu sehen sein wird (Elisabethkirche: „Mythos Europa | Inkontinent“: Elisabethkirche:, 5. & 6. 10., jeweils 19. 30 Uhr).