: Draußen in der Nacht
Volksbühne Nach dem Anschlag auf „Charlie Hebdo“ entstand „Danse de nuit“, von Boris Charmatz jetzt nach Berlin gebracht
von Astrid Kaminski
Es ist geschafft. Boris Charmatz hat seine drei Premieren an der (noch temporären) Volksbühnen-Nebenspielstätte Tempelhof über die Bühne beziehungsweise über den Beton gebracht. Ein choreografiertes Volksfest, eine Uraufführung und eine deutsche Premiere in weniger als 14 Tagen; weit mehr als 100 beteiligte Tänzer*innen, und das unter den bekannten Bedingungen der Feindseligkeit gegen das neue Team der Volksbühne. Warum tut sich jemand das an?
Im Programm der Premiere „Danse de nuit“ lässt er sich zitieren: „In (our) public spaces (now) there are many more armed soldiers than (unarmed) dancers.“ Keine Frage, dass der international renommierte Choreograf, der außerdem ein choreografisches Zentrum im französischen Rennes leitet, an dieser Rechnung etwas ändern will. Nichts weniger als die Eroberung des öffentlichen Raums durch den Tanz hat er sich vorgenommen.
Fast jede Kunstform entwickelt solche Fantasien, sogar eine so intime Kunst wie die Lyrik wird als „Weltklang“ auf dem Potsdamer Platz inszeniert. Situationen zu schaffen, in denen Menschen aus ihrem Alltag spontan in die Kunst abbiegen können, in denen die Bewältigungsroutine mit dem Unerwarteten, Ungedachten konfrontiert wird, das ist eine spannende Herausforderung. Zur Eröffnung des Volksbühnenprogramms hatte Boris Charmatz unter dem Titel „Fous de danse“ auf dem Betonproszenium vor dem ehemaligen Flughafen Tempelhof abwechselnd zum Tanz gebeten und Pop-up-Choreografien geboten. Nun, mit „Danse de nuit“ zieht er auf den Parkplatz vor dem Haupteingang, der nach 21.00 Uhr allerdings wenig Öffentlichkeit anzieht und allenfalls von Besucher*innen eines Männer-Stripclubs genutzt wird. Auch muss dieses Mal Eintritt bezahlt werden, was einen kontrollierbaren Raum voraussetzt.
Schlafen und schreiben
„Danse de nuit“ ist im Echoraum des Terroranschlags auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo entstanden. Es ist ein emotionales, getrieben wirkendes Stück mit und von sechs Tänzer*innen, ein Wälzen, Strampeln, Kickboxen, Springen. Sie rennen auf der Stelle, brechen in wirre Komik aus, stoßen eruptiv und fast kontinuierlich Text aus. „Dazu reicht mein Französisch nicht“, seufzt ein Zuschauer. Allerdings ist es Englisch, von dem in der akustisch ungünstigen Situation entlang des ständig wandernden Geschehens oft nur noch der französische Akzent herübergeweht kommt.
Wie so oft, unter anderem in der Uraufführung „10.000 Gesten“ letzte Woche, lässt Charmatz viel zitieren, aus Presse, Zeugenaussagen, Statements des Präsidenten, Stückauszüge von Tim Etchells. „Carlie is dead“, „humor has a tendency to fail“, „get out of my mind, get out of this room“ mutiert zu „welcome to our space, to my head“. Schreiben und schlafen sind wiederkehrende Worte. Sie markieren den Wunsch nach Meinungsfreiheit und Sicherheit.
Hin und her geworfen werden die Tänzer*innen, immer wieder wälzen sie sich auf dem Boden wie in wilden Albträumen, halluzinieren entweder einen „Ort, der von neuen Geistern bewohnt wird, einen Ort, an dem alle frei sind“ oder eine Existenz, durch die sie sich bewegen können, „ohne Spuren zu hinterlassen“, niemanden stören, noch nicht einmal das Bettlaken, auf dem sie schlafen. Diese Zerrissenheit zwischen Verschwindenwollen und Selbstbehauptung ist genauso wie die Überblendung von Gewaltszenen aus der Kunst (im Rap, im Film, bei Shakespeare) und realer Gewalt ein Dilemma, das für mich fühlbar wird. Aber reicht es, dieses Dilemma in all seiner Emotionalität wie Kleinkinder von sich abzustrampeln? Ist das eine zureichende Ästhetik der (Rück-)Eroberung des öffentlichen Raums, und sei es des simulierten?
Zweifel kommen auch bei den Übergriffen auf das Publikum auf. Ähnlich wie in „10.000 Gesten“ lässt Charmatz auch hier so agieren, als ginge es mit aller Gewalt die imaginative vierte Wand zum Publikum einzureißen. Es wird geschubst, gestoßen. Einzelne werden herumgetragen. Das wirkt nach einer Ästhetik, die dem belgischen Tanz der 1990er entsprungen ist. Inzwischen sind die interaktiven und partizipatorischen Gesten an das Publikum um einiges subtiler geworden. Es wirkt, als habe sich Charmatz doch zu viel aufgeladen, um ästhetische Tragfähigkeit und Reflexionstiefe herzustellen.
Doch dass dieser Choreograf die Kurve wieder kriegt, dafür würde ich mindestens eine Hand ins Feuer legen. Allerdings: Da Volksbühnen-Intendant Chris Dercon bis auf die Uraufführung wusste, worauf er sich einlässt, dämpft dieser Premierenreigen die Erwartungen an sein Programm erst einmal mehr als er sie anfacht.
„Danse de nuit“, wieder am 23. + 24. 9., 21 Uhr, Flughafen Tempelhof
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