: Selbstmord trotz Pille
Neuere Studien zeigen, dass Antidepressiva oftmals nur eine geringfügige Wirkung haben. Pharmaindustrie soll alle Daten offen legen
Deutschland im Stimmungstief: Die Bundesbürger kaufen pro Jahr über 20 Millionen Packungen an depressionshemmenden Medikamenten, die den Apotheken einen Umsatz von über 800 Millionen Euro bescheren. Für Ärzte sind Antidepressiva mehr denn je das Mittel der ersten Wahl. Die Techniker-Krankenkasse stellt in ihrem diesjährigen Gesundheitsreport fest, dass allein ihren 2,4 Millionen Mitgliedern jährlich mehr als 276.000 Packungen verordnet werden, das bedeutet etwa eine Packung auf neun Versicherte. Aktuelle Studien lassen jedoch Zweifel an der Wirksamkeit der Antidepressiva aufkommen. So ergab eine Datenauswertung der Wissenschaftler Joanna Moncrieff und Irving Kirsch vom University College in London, dass die Medikamente einem wirkstofffreien Plazebo offenbar nur geringfügig überlegen sind.
Auf der maximal 52 Punkte umfassenden Hamilton-Skala, die üblicherweise zum Erfassen depressiver Zustände benutzt wird, kommen sie lediglich auf einen Vorsprung von 1,7 Punkten. Ein Unterschied, der laut Moncrieff und Kirsch aus wissenschaftlicher Sicht „vernachlässigbar“ sei.
Zu denken gibt auch, dass die US-Arzneimittelbehörde FDA vor kurzem die Hersteller von Antidepressiva aufforderte, alle jemals zu ihren Wirkstoffen durchgeführten Studien zu melden. Der Grund: Es hatten sich die Verdachtsmomente gehäuft, wonach die Pharmaindustrie unliebsame Daten zu ihren Medikamenten nicht veröffentlicht hätte, um umsatzschädliche Diskussionen zu vermeiden. Da besteht also vermutlich ein großer Nachholbedarf. Hinzu kommen Hinweise, wonach einige Antidepressiva sogar zu einer Erhöhung des Selbstmordrisikos führen – was natürlich bei einer Krankheit, bei der 40 Prozent der Betroffenen einen Suizidversuch unternehmen und bis zu 10 Prozent dabei erfolgreich sind, besonders stark ins Gewicht fällt.
Gründe genug also, das ausufernde Verschreibungsverhalten bei den Antidepressiva zu überdenken. Professor Bruno Müller-Oerlinghausen von der deutschen Arzneimittelkommission erkennt hier bereits Parallelen zu den Hormonpräparaten für die Wechseljahre. Auch die wurden ja zunächst als Lifestyle-Medikamente gefeiert, anschließend als Gesundheitsrisiko gebrandmarkt, um schließlich dann doch auf dem Markt zu überleben, indem man ihre Indikation auf spezielle, klar umrissene Krankheitsbilder eingeschränkt hat. Einen ähnlichen Imagekurs kann sich Müller-Oerlinghausen auch für Antidepressiva vorstellen.
Solche Entwicklungen würden vermutlich den Absatz alternativer Depressionshemmer wie Johanniskraut ankurbeln. Tatsache ist jedoch: Auch die beliebte Heilpflanze hat Image- und Nachweisprobleme. So zeigt sie gelegentlich Wechselwirkungen mit Blutgerinnungshemmern, Herzstärkungsmitteln und Immunsuppressiva, die von Menschen nach einer Transplantation eingenommen werden, um Organabstoßungen zu vermeiden. Und wissenschaftliche Studien belegen zwar, dass Johanniskraut bei leichteren und mittleren Krankheitsverläufen ähnlich wirkt wie die herkömmlichen Antidepressiva. Doch was hat das schon für einen Aussagewert, wenn diese Antidepressiva nur unwesentlich besser abschneiden als ein Plazebo? JÖRG ZITTLAU