Berliner Szenen: Zeit für einen Cappuccino
Hitler lebt
„Zeit für einen Cappuccino?“, fragt ein Mann, der an einem Kaffeetisch im Treptower Park hockt. Neben ihm sitzt ein anderer Mann, knabbert an einer Karotte und blättert in einem Buch. „Erfolgreich manipulieren“ steht auf dem Titel. Meine Begleitung und ich zögern. Neugier überwiegt – wir setzen uns.
Der Herr in weißem Hemd mit kurzer roter Krawatte und Funktionshose schaufelt löffelweise Fertigpulver in zwei Tassen, gießt Wasser drauf und rührt um. Er schiebt uns Kekse rüber und redet dabei unentwegt. Es geht um Heilkräuter, wie er die Chemotherapie abgebrochen und sich vom Krebs geheilt hat. Wir nippen zurückhaltend am Cappuccino.
Dann wird’s abenteuerlich. Auf die Frage, warum sie Fremde zum Kaffee einladen, sagt der Krawatten-Funktionshosen-Typ, dass sie nebenbei Himmelsaktivitäten beobachten. „Chemtrails?!“ rufe ich. Krass! Ich habe noch nie jemanden getroffen, der tatsächlich an den Quatsch glaubt.
Dann packt der Typ das ganze Repertoire an Verschwörungstheorien aus: Neu-Schwabenland, Deutschland GmbH, Zahlencodes, Hitler lebt. Als ich frage, ob sie Chembuster haben (Geräte zur Abwehr von Chemtrails) oder ihre Gardinen in Essig tränken (soll auch helfen), werden sie skeptisch. „Habt ihr mein YouTube-Video gesehen?“, fragt der Kräuterheiler und mustert uns. Mein Begleiter setzt die Sonnenbrille auf. „Wie heißt denn Dein Youtube-Kanal?“, fragt er. „Das wisst ihr doch besser als ich!“, knurrt er. Wir fragen noch, wen er am Sonntag wählen will. Niemanden! Er hat keinen Personalausweis. Wäre auch Hochverrat.
Dann erzählt der Ausweislose, dass das SEK bei ihm zu Hause war. Ich frage, ob er Waffen hat. „Nein“, sagt er. Der Capuccino ist alle, wir verabschieden uns. „Und niemals aufhören, Fragen zu stellen“, ruft er uns hinterher.
Katharina Schipkowski
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