Bedrohter Schutzraum

Lidokino 8 Ausbuhen und entspannen: Viel Grau in Darren Aronofskys Horrorgroteske „Mother!“ mit Jennifer Lawrence. Liebe und Terror bei Javier Bardem als Drogenkönig Pablo Escobar

Was wäre ein Wettbewerb ohne einen Film, der nach Leibeskräften ausgebuht wird? Nicht, dass es dazu in Venedig nicht schon Gelegenheit gegeben hätte, Sebastiano Risos „Una famiglia“ etwa über das gewerbemäßige Kinderkriegen zum Verkauf an adoptionswillige Paare hat sich seine Geschichte mit der Wahl höchst plumper Mittel gründlich vergeigt. Die Stimmen erhoben sich allerdings erst bei Darren Aronofskys Horrorgroteske „Mother!“ mit Jennifer Lawrence und Javier Bardem in den Hauptrollen.

Das Eigenheim als bedrohter Schutzraum ist eines der Themen, die Aronofsky darin verarbeitet. Lawrence und Bardem als Paar in einem entlegenen Anwesen auf dem Land bieten den Rahmen. Man lebt zurückgezogen, er ist Schriftsteller, versucht zu arbeiten, sie renoviert das Haus. In Farben, die genauso grau sind wie ihre Kleidung. Dann kommen die Besucher. Erst ist es nur ein Mann, dann kommt dessen Frau, schließlich die Söhne der beiden. Bei dem Familientreffen kommt es zu Unstimmigkeiten mit Gewaltanwendung, irgendwann fließt Blut auf die frisch abgezogenen Holzböden.

Diese Konstellation wiederholt sich später, bloß mit viel mehr ungebetenen Gästen und viel mehr Chaos. Realistische Erwartungen können in diesem Szenario nur enttäuscht werden, wenn plötzlich aus dem Nichts Soldaten auftauchen und von ebenso unsichtbaren Gegnern niedergestreckt werden. Wieder eine Einlassung zu den USA, diesmal zur Abschottungspolitik nach außen? Die eventuellen Absichten verhindern allerdings nicht, dass die Materialschlacht, die Aronofsky veranstaltet, recht bald ermüdet. Schön aber die invasive Tonspur mit schrillen Tönen des Komponisten Jóhann Jóhannson, der sich immer mehr zum Filmmusik-Superstar entwickelt. Und ein Haus, das nach seiner Verwüstung wie ein Phönix aus der Asche immer wieder in seinen alten Zustand zurückfindet. Reicht insgesamt aber nicht ganz, um einen jenseits zerebraler Reize zu affizieren.

Danach konnte ein wenig Erholung gleichwohl nicht schaden. Etwa in Chris Smith’Dokumentarfilm „Jim & Andy: The Great Beyond – The Story of Jim Carrey & Andy Kaufman Featuring a Very Special, Contractually Obligated Mention of Tony Clifton“. Der Schauspieler Jim Carrey spielte in Miloš Formans „Der Mondmann“ von 1999 den US-amerikanischen Komiker Andy Kaufman. Smith holte nun Carrey vor die Kamera, um ihn von der Arbeit am „Mondmann“ sprechen zu lassen. Vor allem aber bietet „Jim & Andy“ Material, das Jim Carrey während der Dreharbeiten zu Formans Film aufnehmen ließ.

Carrey, erfährt man, lebte allem Anschein nach seine Rolle manisch aus, war fast die ganze Zeit am Set als Andy Kaufman zu erleben, probierte in immer neuen unberechenbaren Ak­tionen, Kaufmans anarchischen Humor zu perpetuieren. Und wenn er in dessen stinkstiefeliges Alter ego Tony Clifton schlüpfte, verfuhr er genauso, zur großen Freude des übrigen Teams. Die Szenen sind oft urkomisch, haben in der Besessenheit Carreys, die dabei zum Vorschein kommt, mitunter leicht verstörende Wirkung. Und werfen die ein oder andere Frage zu Schauspielerei, Identität und Irresein auf.

Noch einmal Javier Bardem, mit Doppelkinn und prachtvollem Bierbauch, in der Rolle des kolumbianischen Drogenkönigs Pablo Escobar, gab es dann außer Konkurrenz in „Loving Pablo“ von Fernando León de Aranoa zu bewundern. Dass es sich dieses spanische Biopic auf die komplizierte Liebesgeschichte Escobars mit der Journalistin Virginia Vallejo (Penelope Cruz) konzentriert, ändert nichts daran, dass die brutalen Methoden von Escobars Narcoterrorismus das Geschehen bestimmen. Konventionell erzählt, so blutig wie temporeich inszeniert und allein schon der Maske wegen sehenswert – bei Bardem, versteht sich. Tim Caspar Boehme