: Deutschland, deine Zipfel
List auf Sylt, Görlitz, Oberstdorf und Selfkant werben gemeinsam mit ihrer äußersten Randlage um Touristen mit Sinn fürs Kuriose. Auf der Zentralfeier zur deutschen Einheit servieren sie vierzipfelige Knacker. Doch liegen sie mit ihren jeweiligen Reizen nicht nur geografisch weit voneinander entfernt
VON SEBASTIAN KRÜGER
15 Jahre deutsche Einheit – und das Land wächst noch immer zusammen. Während aber die einen meinen, die „Hälfte des Weges“ sei zurückgelegt, haben die anderen die Angleichung der Lebensverhältnisse ad acta gelegt. Doch wie stellt sich der Einigungsprozess vom Rand aus betrachtet dar? Der Rand – das sind zum Beispiel die geografisch äußersten Orte des Landes: List auf Sylt, Oberstdorf im Allgäu, das Selfkant im Maastal und Görlitz.
Diese vier Orte schlossen 1999 miteinander den „Zipfelpakt“ – ein Marketing-Gag, der im Reisebüro für zusätzliche Aufmerksamkeit sorgen soll. Jeder, der will, erhält einen „Zipfelpass“ und kann sich damit bei den lokalen Behörden einen amtlichen Stempel abholen. Über 250 Pässe wurden bislang vollständig abgestempelt – heilige Dokumente für Extremheimatkundler.
Am Tag der Deutschen Einheit begehen die vier Zipfel ihren „Zipfelgipfel“. Auch bei der diesjährigen zentralen Einheitsfeier in Potsdam wird sich wieder die ganze Exotik der deutschen Zipfel entfalten: Alpine Trachtenrockträger klappern in holländischen Holzpantinen um Strandkörbe herum. Zur Stärkung gibt es vierzipfelige Knacker, hergestellt nach einem niederschlesischen Rezept. Doch schon beim Verzehr scheiden sich die Geister: mit Mostrich oder Senf? Mit Semmel oder Brot?
List: Als die Sonne mal wieder für ein paar Minuten scheint, ist die Kaimauer schnell besetzt: Touristen und ein paar alte Sylter starren gemeinsam über das Meer. „Guck mal, ein Seehund“, unterbricht ein Mädchen die Stille. Seine Mutter kann nichts entdecken und die alten Sylter grinsen: Statt einer Robbe steckt ein Kormoran sein Gefieder aus dem Wasser. Das hat das Mädchen jetzt auch gesehen, es ist sauer und will nun zu den Piraten.
Listige Urlauber nennen den Hafen „List Vegas“, weil hier so viel los ist: Piratenclowns für die Kleinen, Souvenirs für die Großen, Schiffe gucken für alle. Je schlechter das Wetter ist, umso voller sind die Imbissbuden und Cafés, hinter deren Tresen ausnahmslos Saisonarbeiter stehen. List hat den „Zipfelpakt“ zur Attraktivitätssteigerung gar nicht nötig. Das Fischerdorf wurde dank des Tourismus zu einem starken peripheren Standort. Die dazu nötigen Arbeitskräfte kommen vom Festland: Ganze 5 Prozent der 23.000 Sylter sind auf der Insel geboren, der überwiegende Rest ist zugezogen.
Oberstdorf: Der Blick vom Nebelhorn, einem der Gipfel rund um Oberstdorf, soll überwältigend sein – das sagen alle, die bei guter Sicht herunterkommen. Wer Pech hat, sieht nur, wie sich der Talkessel mit Regenwolken füllt. Das war in diesem Sommer oft der Fall, denn im Allgäu gilt die Bauernregel vom Siebenschläfer noch. Nur für die Skispringer an der Schattenbergschanze gilt: je nasser – desto besser. In ihren neonfarbenen Anzügen gleichen sie einer Mischung aus Taucher und Raumfahrer. Vom Sprungturm stürzen sie sich in einer Wasserrinne die Schanze hinab, segeln kurz durch den Niesel und rutschen auf klatschnassen Matten zu Tal.
Oberstdorf, das größte Wander- und Skisportgebiet der Nordalpen, strahlt auch unter tiefer gelegter Bewölkung etwas von seiner touristischen Bedeutung aus. Bis vor 150 Jahren lebten die Allgäuer vom Flachs-Anbau, dann kam der Käse, heute kommen die Urlauber – pro Jahr übernachten sie hier rund 2,5 Millionen-mal und sorgen mit für eine Arbeitslosenquote von nur sechs Prozent.
Selfkant: Vom niederländischen Sittard ist es nur ein Spaziergang über die grüne Grenze in den westlichsten Zipfel Deutschlands, ins Selfkant. Wie ein Katzenkopf schiebt sich das Konglomerat aus 12 Dörfern in die niederländische Provinz Limburg hinein. Bei Niesel liegt über den beigefarbenen Häusern eine feine Schraffur, und die Gegend sieht aus wie Mecklenburg an einem trüben Tag.
Der Fremdenverkehr spielt sich vor allem an den Zapfsäulen ab: Niederländer tanken deutsches Benzin, Deutsche niederländischen Diesel; nächste Woche ist es vielleicht umgekehrt. Franz Peters kämpft mit seinem Gasthof um ein Stück vom Zipfelkuchen. Den größten Umsatz verschafft ihm das Nachbarland: „Zum Glück können die Holländer nicht kochen. Zwischen Pommes-Tüte und Fünf-Sterne-Menüs kennen sie nix.“ Seine Frau, die Köchin Isabelle, schellt mit der Glocke; eilfertig jagt er nach hinten. Draußen jagen atlantische Tiefausläufer über den Himmel, bei Westwind treffen sie einen Tag später und 660 Kilometer weiter östlich in Görlitz ein.
Görlitz: Auch hier ist die Grenze zum Nachbarland fließend: Die Neiße rauscht über eine breite Wehr zwischen Deutschland und Polen. Görlitz gehört zu den wenigen ostdeutschen Städten, deren Einwohnerzahl zunimmt – auch wegen des Zuzugs westdeutscher Rentner. Für sie ist Görlitz ideal: bezahlbares Wohneigentum in topsanierter Renaissance-Kulisse. Aus dem Zweiten Weltkrieg ohne Ruinen und aus den Jahrzehnten danach mit Schrammen davongekommen, ist Görlitz nach der Wende zur „Perle der Oberlausitz“ avanciert. Beherzt greift es nun nach dem Rettungsanker Fremdenverkehr – auch dank der Geschichte, die Görlitz 1945 nicht nur zum östlichsten Zipfel Deutschlands machte.
Heute ist die Stadt ein Nadelöhr des stetig wachsenden Schlesien-Tourismus: Wer ins Riesengebirge oder nach Breslau will, macht dort Station. Die Zwillingsstadt am anderen Ufer heißt Zgorzelec. Die Bewerbung um den Titel der europäischen Kulturhauptstadt 2010 ist eine Kooperation beider Kommunen. Mit ihnen wächst zusammen, was viel besser zusammenpasst als die vier Himmelsrichtungen. Die Einheit der deutschen Zipfel besteht in der Optimierung ihrer Tourismuskonzepte: Seit 15 Jahren ist Oberstdorf autofrei, ebenso lange ist Görlitz dabei, seine Rand- in eine Regionallage umzudefinieren. In 15 Jahren wird List eine Seebrücke haben, und das Selfkant ist von jeher Naherholungsgebiet einer niederländischen Kreisstadt. Gästebetten aufschlagen, wo es keine anderen Erwerbsmöglichkeiten gibt – mit der Lage am äußersten Rand der Republik hat das wenig zu tun.
Vielleicht schließen sich ja bald die höchstgelegenen Orte eines jeden Bundeslandes zum „Gipfelpakt“ zusammen. Oder die Dörfer mit den ältesten Landmaschinen zum „Traktorenpakt“. Natürlich braucht jeder Pakt seinen Pass zum Abstempeln.