Tauziehen um Colonia Dignidad

In Chile hebt ein Richter die Zwangsverwaltung der ehemaligen Sektensiedlung auf

PORTO ALEGRE taz ■ In Chile ist um das weitere Vorgehen gegen die Colonia Dignidad ein erbitterter Machtkampf zwischen verschiedenen staatlichen Instanzen ausgebrochen. Untersuchungsrichter Jorge Zepeda, dem der Oberste Gerichtshof letzte Woche sämtliche Ermittlungen über die ehemalige Sektensiedlung übertragen hatte, hob die vor drei Wochen verhängte Zwangsverwaltung wieder auf. Seine Entscheidung begründete er damit, dass den Opfern der 1961 gegründeten Siedlung durch juristisch unhaltbare Maßnahmen nicht geholfen sei.

Genau dies bestreitet Anwalt Hernán Fernández, der seit 1996 mehrere Opfer vertritt, vehement. Für ihn bedeutet die Entscheidung Zepedas einen „enormen Rückschlag“. Der egozentrische Zepeda habe kein Interesse daran, die Wirtschaftsdelikte in der Siedlung zu untersuchen, sagte Fernández der taz. „Außerdem interessiert er sich weder für die erwiesenen Folterungen ehemaliger Siedler durch Medikamente und Elektroschocks noch für die irregulären Arbeitsbedingungen, die bis heute anhalten.“

Nach der Auflösung der „Wohlfahrtsgesellschaft Colonia Dignidad“ 1991 waren die Geschäfte durch mehrere Firmen weitergeführt worden. Zwangsverwalter Herman Chadwick sagte, bei der knapp dreiwöchigen Untersuchung der Siedlungsfirmen habe er Unregelmäßigkeiten entdeckt.

Richter Zepeda will jetzt die Ermittlungen auf die Beteiligung von sechs Kolonisten beschränken. Bereits letzte Woche hatte er zudem eine richterliche Anordnung annulliert, gegen Sektenführer Paul Schäfer und drei seiner engsten Komplizen ein Verfahren wegen der Bildung einer kriminellen Vereinigung einzuleiten. Schäfer war am 10. März in Argentinien nach neunjähriger Flucht verhaftet und nach Chile abgeschoben worden, wo ihm in wenigen Wochen der Prozess gemacht werden soll.

Während die Anwälte der Führungsclique um Schäfer Zepedas Vorgehen bejubelten, haben die Kolonisten in der 400 Kilometer südlich von Santiago gelegenen Siedlung gemischte Gefühle. Vor allem die Generation der etwa 40-jährigen Siedler habe die Bemühungen des Zwangsverwalters geschätzt, Transparenz in die Firmen zu bringen und allen Arbeitern reguläre Löhne zu zahlen, sagte Sprecher Hernán Escobar. Nun überlege man, wie man diese Arbeit mit externen Beratern fortsetzen könne.

Für den Anwalt Fernández und Clara Szczaranski, die Vorsitzende des chilenischen Staatsverteidigungsrats, geht der Konflikt im Kern darum, ob die Colonia Dignidad als kriminelle Vereinigung begriffen werde. Denn nur so ließen sich zahlreiche Verbrechen ahnden, die sonst verjähren könnten. José Benquis vom Obersten Gerichtshof tut dies als „politischen, wahltaktischen Diskurs“ ab.

Das Innenministerium schließlich will jetzt die Aufhebung der Zwangsverwaltung anfechten. Man wolle den Status der Siedlung „als eine Art Staat im Staate“ beenden und dafür sämtliche juristische Mittel ausschöpfen, versprach ein Regierungssprecher. GERHARD DILGER