: Auf verlorenem Posten
Unter Migranten ist SPD-Direktkandidat Iyidirli bekannt, türkische Journalisten duzen ihn, doch die Deutschen schreiben seinen Namen immer noch falsch. Mitten in Kreuzberg gab er seine Stimme ab
VON ULRICH SCHULTE
Es ist kurz nach elf als ein Anflug von Panik in die Augen der kleinen, etwas rundlichen Wahlhelferin tritt. Nee, nee, sagt sie und wedelt mit den Armen, die Urne bleibt, wo sie ist. Sie dirigiert das Dutzend türkischer Journalisten in einen Halbkreis. Nur der Stimmzettel-Einwurf darf gefilmt werden, sie hat sich da schlau gemacht. Klack, die Lichter gehen an, Auftritt Ahmet Iyidirli, SPD-Direktkandidat Friedrichshain-Kreuzberg, stimmberechtigt im Bezirk 322. „Einundzwanzig, zweiundzwanzig, vorbei. Alle raus jetzt“, sagt die Frau. Ordnung muss sein, Wahl ist Wahl.
Ahmet Iyidirli, 49, das Y wie ein J gesprochen, Betonung auf der zweiten Silbe, sollte den Bezirk dem Trumpf-Ass der Grünen, Christian Ströbele, abjagen. Ob er das geschafft hat, war bis Redaktionsschluss nicht ausgezählt – aber unwahrscheinlich.
Die Szene in dem Wahllokal erzählt viel über den Kandidaten Iyidirli und seinen Wahlkampf. In der türkischstämmigen Community ist er eine Marke: Jeder Journalist duzt ihn, Ahmet, den Bundesvorsitzenden der türkischen Sozialdemokraten. Die Deutschen schreiben seinen Namen bis heute falsch.
Die SPD versuche doch nur, auf dem Migrantenticket zu surfen, war zu lesen, nachdem sich der SPD-Kreisvorstand im Streit um seine Nominierung fast zerschreddert hätte. Nicht wegen des Migrationshintergrundes habe die Partei ihn aufgestellt, sagt der Volkswirt, sondern wegen seiner Positionen. „Dass ich einen guten Draht zu Migranten habe, kommt nur dazu.“ Ob das auch alle SPD-Strategen so sehen, sei dahingestellt.
Entscheidend ist aber, dass die CDU ihre Allzweckwaffe Eberhard Diepgen auch in Neukölln losgelassen hat, wo kein anderer Christdemokrat einen Stich gehabt hätte. Gegen den einen wird politisches Kalkül instrumentalisiert, beim anderen interessiert es niemanden. Ebenso habe niemanden interessiert, sagt Iyidirli, dass die NPD auf einige seiner Plakate den Spruch „Heimreise“ geklebt hätte. Nicht, dass ihm das etwas ausmache. „Wenn man selbst oft ignoriert wird, lernt man, andere zu ignorieren.“
Natürlich ist das eine Wahrnehmungsfrage. Es hat mit dem Blick der Deutschen auf Migranten zu tun, ein Thema, über das es sich mit Iyidirli lange und trefflich streiten lässt. Seit 1975 in Berlin lebend, hat er sich sein ganzes Leben lang mit Migrationspolitik, Rassismus und Gleichstellung beschäftigt – in Seminaren der Friedrich-Ebert-Stiftung, in SPD-Fachausschüssen, im Kreisvorstand.
Er redet anschaulich, er kann seine Thesen in Kreuzberg festmachen. Zum Beispiel die Hauptschule an der Skalitzer Straße, in der er gerade seine Stimme abgegeben und damit eine Wahlhelferin sehr nervös gemacht hat. 100 Prozent Migrantenanteil, lautet das Urteil der Bürokraten. Zeitungen berichteten, Fernsehsender auch, die Abgeordneten aller Parteien redeten sich im Plenum in Rage.
„Der Tenor war immer negativ – weil die Jugendlichen Migranten sind“, sagt Iyidirli. Über die verengte Sicht kann er sich aufregen, so sehr, dass ihm ab und an die sachliche Sprache entgleitet. „Jetzt versetzen Sie sich mal in die Lage der Kinder. Der eine spricht vielleicht gut Englisch, die andere kann Mathe. Aber beide lesen über sich, du bist scheiße. Da hat eine Generation die Hoffnung auf eine Zukunft verloren.“ Iyidirlis Lösung würde dem klammen Schulsenator Schweißperlen auf die Stirn treiben. Warum kein Modellprojekt aus der Schule machen, fünf Sozialarbeiter, zehn Lehrer zusätzlich einstellen? Warum nicht Kindern in einem einjährigen Intensivkurs Deutsch beibringen, bevor sie in die Schule gehen?
Einer, der solch kostspielige Ideen formuliert, der in einem Nebensatz sagt, dass das Hartz-IV-Instrumentarium der eigenen Partei in manchen Nord-Neuköllner oder Kreuzberger Kiezen nicht greift, hat es schwer, wenn es um Parteiämter geht. Denn hier ist eher die schwammige Mehrheitsmeinung gefragt denn die entschiedene Position für wenige. Vielleicht ist der SPD ihr Direktkandidat zu direkt.