: Gespaltene Zunge
Es gibt eine linke Mehrheit, die zur Not lieber Schröder als Merkel will und SPD, Grüne und Linkspartei gewählt hat. Und diese Mehrheit will, dass dieser heterogene Haufen die linke Politik neu erfindet
„Endlich spricht der Souverän“, seufzte erleichtert die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Das war am Sonntag. Doch diese verdächtig dezisionsbegeisterte Vorfreude hat der Volkssouverän offensichtlich gründlich verdorben. Der Kerl spricht mit gespaltener Zunge. Oder nicht? In einem Punkt hat sich der Bruder nämlich mit äußerster Klarheit entschieden: Er will Merkel nicht. Ja, er will lieber Schröder als Merkel. Diese Mehrheit derer, die zur Not eher den Kanzler wollen, ist die linke Mehrheit von SPD, Grünen und Linkspartei, sie hat klar mehr als 50 Prozent.
Jeder weiß, dass es so ist, nur keiner darf es sagen. Die Versuche der anderen vier, sich in ihrer PDS-Ablehnung zu überbieten, verhindern es offensichtlich, das Votum von fast 10 Prozent Wählern in diesem Punkt überhaupt nur zur Kenntnis zu nehmen. Es gibt ein Lektüre- und Interpretationsverbot für dieses Ergebnis, an dem nicht zuletzt die Linkspartei selber entscheidend mitwirkt, indem sie verschweigt, was denn aus ihrem stolzen Hinweis, sie hätte Schwarz-Gelb verhindert, folgt: dass auch ihren Wählern Rot-Grün immer noch lieber ist.
Darum reden nun alle so leicht verrutscht und verrückt daher: die SPD mit ihrer bizarren Sprachregelung, sie sei die stärkste Partei; Union und FDP mit ihrem Mantra, Rot-Grün sei abgewählt worden; der ungesund aufgekratzte Schröder, der weiß, dass ihn die Mehrheit will, und darüber vor Freude schier ausrastet, aber sich auch nur in von Boxerposen begleiteten sibyllinischen Sentenzen äußern darf. Dabei waren es natürlich auch seine kontrafaktischen Behauptungen von Handlungsfähigkeit, also Souveränität, die den Volkssouverän da draußen begeisterten: Wenn er eine Mehrheit im Parlament hat, sagt er, er hat keine. Wenn er keine hat, sagt er, er hat eine. Die von den schwarz-gelb gleichgeschalteten Medien verbreiteten Unhintergehbarkeiten einschlägiger Wirtschaftsdaten-Interpretationen werden dazu beigetragen haben, dass solche scheinbar gesicherte Fakten unbeliebt wurden. Man weiß ja, dass das ununterbrochen Wiederholte die wiederholende Indoktrination nötig zu haben scheint: Propaganda eben.
Als alle Sozialdemokraten am Wahlabend so unwirklich heiter waren, musste man ja denken, die wissen alle noch was, was wir nicht wissen. Gibt es einen bereits gedungenen Verräter in der FDP, der nur darauf wartet, Gerhardt und Westerwelle für Pfründen und eine Ampelkoalition in den Orkus zu stoßen? Aber natürlich wussten die auch nichts. Sie wissen nur das, was sie nicht sagen dürfen: dass es eine zwar heterogene und auffällig marmorierte, aber eben doch linke Mehrheit bei dieser Wahl gibt.
Und dass der stammelnde Souverän eines deutlich gesagt hat: dass dieser heterogene Haufen irgendwie bitte die linke Politik neu erfinden soll. Rot-Grün müsste dafür die Lebenslüge „Neue Mitte“ aufgeben, und alle drei müssten linke Politik mit zeitgenössischen und internationalen Entwicklungen in Verbindung bringen, statt sich an Rekonstruktionsversuchen verschiedener historischer Stadien der Sozialdemokratie wund zu scheuern. DIEDRICH DIEDERICHSEN