piwik no script img

Archiv-Artikel

Verrat, Flexibilität, Befreiungsschlag

Wie kommt Bewegung ins Koalitionsspiel? Die politische Kunst besteht darin, mit den richtigen Begriffen zur richtigen Zeit überkommene Positionen zu räumen. Was heute als Treue zu einem abgegebenen Versprechen gepriesen wird, kann schon morgen als verantwortungslos gegeißelt werden

VON ROBERT MISIK

Der Politikkonsument ist gewohnheitsmäßig der Meinung, Politiker seien flatterhafte Wesen. Kurzum: dass für Politiker heute nicht gilt, was sie gestern bekundeten. Am Wahlabend bot sich dagegen ein irritierendes Bild: lauter Politiker, die bis zur Sturheit treu zu ihren Versprechen und ihren Überzeugungen stehen. Die SPD lehnt eine große Koalition unter CDU-Führung ab, die CDU eine unter SPD-Führung. Die FDP will nicht in eine Ampel, die Grünen wollen in keine Schwampel. Niemand will mit der Linkspartei und die Linkspartei mit den anderen nicht.

Nun ist die politische Realität, wie jede andere auch, eine diskursiv produzierte. Der politische Raum ist ein symbolisches System, das durch Sprache aufgespannt wird. Wissen wir seit den frühen Tagen des Linguistic Turn. Womit wir – turn – schon beim Thema sind. Jemand wird die Kurve nehmen müssen. Und es wird von den Begriffen abhängen, ob sich das Risiko dieser Operation auszahlt. Aber nicht nur: Ein zweiter Einsatz in diesem Spiel ist die Zeit. Ein und dasselbe Verhalten wird heute eher mit dem einen Begriff, morgen mit einem anderen identifiziert. Das Schwierige am politischen Poker – und jetzt ist die Zeit des Zockens – ist, dass man ein Gespür braucht für den rechten Begriff zur rechten Zeit. Und dafür, ob die Zeit reif für den Begriff ist.

Gehen die Grünen morgen in eine Koalition mit der Union und der FDP, dann wird man sie des „Verrats“ zeihen – tun sie es in sieben Wochen, zeigen sie sich vielleicht als „offen für Neues“. Die FDP kann natürlich heute nicht Ja zur Ampel sagen, sie würde sich wieder einmal als „opportunistisch“ erweisen. Aber wenn die Hängepartie etwas länger dauert, steht der Grundwert der Liberalen, die „Flexibilität“ nämlich, womöglich wieder höher im Kurs. Dann nämlich, wenn die Rufe lauter werden, jemand müsse doch „über seinen Schatten springen“.

Wir sehen also: Begriffe, die ein und dasselbe beschreiben, können positiv oder negativ konnotiert sein. In unserem Zusammenhang gehört auch die „staatsmännische Verantwortung“, auch wenn die normalerweise weniger mit Sprunghaftigkeit als mit Verlässlichkeit assoziiert wird. Nur gibt es eben politisch-linguistische Konstellationen, in denen sich verantwortliches Handeln gerade in der Bereitschaft zeigt, über seinen Schatten zu springen.

Treue zu abgegebenen Versprechen erscheint dann mit der Zeit als verantwortungslos. Dann schleicht sich ein gewisser Alarmisimus in die politische Rede. Wenn sich alle lange genug in ihre Gräben eingegraben haben, dann wird in den Schlüsselakteuren, in denjenigen nämlich, die man so üblicherweise „instinktsicher“ nennt, das Gefühl hochkriechen, dass es Zeit ist für einen „Befreiungsschlag“. Üblicherweise wird der dann mit dem Satz eingeleitet: „Irgendwie muss ja regiert werden.“ Dann könnte, beispielsweise, Gerhard Schröder seine Leute darauf vorbereiten, dass er mangels anderer Möglichkeiten Rot-Grün von der Linkspartei tolerieren wird lassen. Spätestens das kann dann der große Moment Guido Westerwelles sein, der seine Wendeannonce mit folgendem Satz beginnen könnte: „Um Schlimmeres zu verhindern, haben wir uns entschlossen …“

Es könnte so laufen. Und wenn es nicht so läuft, dann womöglich nicht nur deshalb, weil etwa die CDU weiß, dass Schröder es so machen könnte – sondern weil Schröder weiß, dass die CDU weiß, dass er es so machen könnte. Denn der linguistisch-politische Komplex ist extrem selbstreferentiell, eine Gleichung höheren Grades.