: „Die Kuchendiagramme sind Vergangenheit“
Woran ist Angela Merkel gescheitert? Der Berliner Zeithistoriker Paul Nolte meint: an den sozial Konservativen. Die Gesellschaft sei nicht mehr strukturiert nach den Etiketten „konservativ“ und „links“ – jetzt verlaufe die Grenze zwischen kulturellen Optimisten und Pessimisten
taz: Herr Nolte, die Konservativen bekommen in Deutschland keine Mehrheiten mehr. Was ist da los?
Paul Nolte: Zunächst gibt es keine Mehrheit für Schwarz-Gelb, also für ein radikal-liberales Reformprogramm. Es ist ja geradezu paradox, dass die CDU gescheitert ist mit der unkonservativsten Kandidatin, die man sich nur vorstellen kann. Ostdeutsche, Protestantin, Frau, kinderlos, Karriere. Das steht eigentlich für moderne Lebensentwürfe. Trotzdem ist Merkel gescheitert, aber nicht an den traditionell Konservativen. Sondern an denen, die ich die sozial Konservativen nennen würde.
Sozial Konservative?
Menschen, die wegen ihrer sozialen Ängste nicht mehr CDU wählen. Der Aufbruch in die Moderne ist mit dieser Kandidatin offensichtlich nicht gelungen.
Die Wähler der CDU sind also konservativer oder unmoderner als die Parteispitze unter Führung Merkels?
Einerseits. Aber auch das konservative Milieu bricht ja zusammen. Merkel war mit ihrer Liberalität das geringere Problem als Paul Kirchhof mit seiner Traditionalität.
Wegen der Familien-Frage.
Steuerpolitische Vorstellungen und „flat tax“ haben viele Menschen abgeschreckt, die um ihre Zuschläge fürchteten. Unter modernen Akademikern und Großstadtmenschen dagegen hat etwas anderes abgeschreckt: die Vorstellung, dass die Frau ihre Karriere am Herd machen sollte. Auf dieser Basis kann die CDU keine Mehrheit gewinnen.
Der Spagat ist nicht gelungen?
Das Konservative wäre das sozial-politische Moment der CDU gewesen. Sie hat den Menschen aber überhaupt keine neuen Sicherheitsangebote gemacht. Wo sind die Rückzugsräume, wo sind die Haltegriffe mit dieser CDU?
Wie hätte die Leerstelle gefüllt werden können?
Na ja, nicht mehr mit den Sicherheitsangeboten aus Zeiten der DDR oder der alten Bundesrepublik. Es geht um neue Angebote, um gesellschaftliche Chancen. Da hat die CDU ein Defizit.
Muss man sich in Deutschland von dem Gedanken verabschieden, dass es zwei Lager gibt und eines davon die Regierung stellt?
Ja, die klassischen Kuchendiagramme gehören eigentlich der Vergangenheit an. Die Wähler haben sich mit diesem Ergebnis selbst bestätigt. Die Aussage ist: Ihr Parteien denkt zwar noch in Lagern, aber da ist längst etwas umgebrochen. Seit Jahren haben die Parteien verdrängt, dass sie über die Lager hinaus Gespräche benötigen, um zu klären, wo es die gesellschaftlich offensichtlich wahrgenommenen Überschneidungen gibt. Was ist es denn nun zwischen CDU und Grünen? Das Wahlergebnis ist eine Aufforderung.
Also sind die Parteien rückständiger als die Gesellschaft?
Die Gesellschaft ist nicht mehr strukturiert nach den Etiketten „konservativ“ und „links“, wie es die Parteien gerne hätten. Es gibt vielmehr einen Kulturkampf zwischen kulturellen Optimisten und kulturellen Pessimisten. Da geht es nicht darum, ob ich mit Kirchhofs Modell nun 300 Euro mehr in der Tasche habe.
Um was geht es dann?
Es geht auch um ein Lebensgefühl, um optimistische Weltbilder. Schröder hat bei der Agenda 2010 gesagt: Ich kann nicht anders. Er und Merkel hätten sagen sollen: So stelle ich mir eine gerechte Gesellschaft vor – und deshalb sind diese und jene Maßnahmen nötig. Das macht den Unterschied.INTERVIEW: THILO KNOTT