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Die türkische Zivilgesell-schaft lebt

Türkei Klein, arm und dennoch kritisch: die Kunstbiennale Sinopale

Die türkische Zivilgesellschaft lebt. Das war die Botschaft des Gerechtigkeitsmarschs des türkischen Oppositionsführers Ke­mal Kılıçdaroğlu von Ankara nach Istanbul. Die Nachricht von der Eröffnung der Sinopale ist ein weiteres Indiz, dass die Lichter der Freiheit und des Widerstands noch nicht gänzlich ausgegangen sind am Bosporus.

Im kurdischen Diyarbakır wurde gerade erst eine Künstlerin zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Wenn sich da eine klitzekleine, mausearme Biennale wie die Sinopale in der konservativen Provinz traut, ein kritisches Kunst-Zeichen zu setzen, ist das in der gegenwärtigen Lage in der Türkei mindestens genauso bedeutend wie die Nachricht, dass auch die 15. Istanbul-Biennale Anfang September auf jeden Fall ihre Tore öffnen will.

Die Sinopale ist die kleinste der vier türkischen Kunstbien­nalen. Und sie ist anders: Sinop, die Geburtsstadt des antiken Philosophen Diogenes, liegt am Schwarzen Meer, der Heimat Recep Tayyip Erdoğans. Die 100.000-Einwohner-Stadt, eine malerische Sommeridylle der Türken, symbolisiert nämlich auch das Bild des Landes zwischen Repression und Modernität. Hier steht das Gefängnis, in dem nach den diversen Militärputschen Häftlinge einsaßen. Und hier lässt die Regierung eins von drei Atomkraftwerken des Landes aus der Erde stampfen. Spannender kann ein Umfeld für eine Biennale kaum sein.

Statt auf Spektakel, Künstlerlisten und internationalen Kunst-Jet-Set setzt die erst 2006 gegründete Sinopale auf Graswurzelbewegungen, ökologischen Aktivismus und auf die Zusammenarbeit von Künstlern und NGOs vor Ort. Wie die kleine Biennale im westtürkischen Çanakkale wird auch sie von einer Truppe enthusiastischer Freiwilliger vor Ort getragen.

Wenn der russische Künstler Murat Haschu in diesem Jahr eine osmanische Kammer aufbaut, darin einen Animationsfilm unter dem Motto „Angst“ zeigt und mit Jugendlichen in Sinop einen Filmworkshop durchführt; wenn sich die kolumbianische Künstlerin Esther Suárez Ruiz in einem Projekt mit der europäischen Türkenmode auseinandersetzt; wenn die mobile Künstlergruppe „leavinghomefunktion“ unter dem Motto „Funktionen des Scheiterns“ ihr mobiles Studio an der Küste aufschlägt – dann reflektiert Sinop tatsächlich den bei Biennalen oft folgenlos beschworenen „lokalen Kontext“. Und hier entwickelt die Bevölkerung vor Ort von Anfang an selbst mit.

Teilhabe, Austausch und ästhetische Bildung von unten – wenn es einen Immunstoff gegen die täglich enger gezogenen Fesseln der Diktatur der AKP gibt – dann sind es genau diese Maximen. Sie mögen klein sein. Aber Biennalen wie Sinop machen Hoffnung, dass es gelingen könnte, das Konzept der Demokratie in der Türkei doch noch am Leben zu erhalten.

Ingo Arend

Info unter http://sinopale.org

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