Berlinmusik: GeschrieneLiebe
Was im Genre Hardcore in den späten achtziger und frühen neunziger Jahren passierte, ist eine hochinteressante Angelegenheit. Die alten Pfade waren ausgetreten, und es entwickelten sich allerlei Unterströmungen: Screamo, Emo-Hardcore, Post-Hardcore, Mathcore, Noisecore, so was. Im Kern blieb man also weiterhin hart, aber man versah die Musik mit mehr Drehungen und Wendungen. In den Mainstream kamen aus diesen Spektren nur Bands wie At The Drive-In oder Refused, der Rest verharrte im Underground.
In der Berliner Subkultur gibt es heuer eine Band, die die Fäden dieser Subgenres wieder aufnimmt. Grow Grow heißt sie, bislang ist sie mit einer 10-Inch und einer EP in Erscheinung getreten. Jetzt hat das Trio sein Debütalbum mit dem Titel „Buffet d’Or“ veröffentlicht; und eine Art Buffet ist auch gleich auf dem Cover zu sehen, wo ein Hund genüsslich seine Beute verspeist. Es handelt sich um Paul de Vos’ Barockbild „Hund und Katze an einem Vorratskorb mit Fleisch, Spargel und Artischocke“ aus dem 17. Jahrhundert. Der Titel klingt zunächst nach gemütlichem Stillleben – aber das täuscht.
Und gemütlich geht es auch bei Grow Grow nicht zu. Zum einen musikalisch: Da ist Schreigesang zu vernehmen, zum Teil im Duett, da ist ein knarrender Bass zu hören, und da ergänzen sich Staccato-Gitarrenakkorde mit breakreichem Schlagzeugspiel – Beine und Füße des Hörers zucken fast reflexartig.
Zur wummernden Musik gibt es wütende, aber nie platte deutsche Texte – Referenzen an bessere Deutschpunk-Combos wie Turbostaat oder Love A klingen somit auch an, zum Beispiel gleich im ersten Stück, „Souvenir“. Die Kritik an einem bürgerlichen Lebensentwurf kommt darin mit sieben Worten aus: „Geburtsurkunde / Abschlusszeugnis / Steuererklärung / Hochzeitsfoto / Rentenbescheid / Arztbericht / Totenschein“.
Musikalisch am beeindruckendsten und mit einem hohen Mitwippfaktor ausgestattet ist der siebenminütige Titeltrack „Buffet d’Or“, der wie ein konventionelles Noiserockstück beginnt, gegen Ende aber mit einer Postrock-Eskapade aufwartet, die einen etwa an die Instrumentalbands des Labels Constellation erinnert. Das folgende „Drei Sonnen hell“, das schon auf der EP zu hören war, ist dann ein echter Hit und der Beweis, wie hoch das Energielevel in besagten Genres ist. Und dafür, dass man schöne Liebeslieder auch schreien kann.
Jens Uthoff
Grow Grow: „Buffet d’Or“ (Self-released), Release-Party: 15. Juli, 19 Uhr, Schokoladen
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