Unabsichtlich? Unentschuldbar!

AKTENAFFÄRE Der Verfassungsschutz-Ausschuss rätselt über das Motiv der Vernichtung von Neonazi-Akten. Sonderermittler sieht menschliches Versagen, Senator Henkel zieht Konsequenzen

„Hätte der Mann das wirklich vertuschen wollen, hätte es andere Wege gegeben“

SONDERERMITTLER DIRK FEUERBERG

VON KONRAD LITSCHKO

Als Pirat Pavel Mayer sagt, das Ganze ergebe keinen Sinn, „sowas Beklopptes kann sich doch keiner ausdenken“, da schmunzelt auch Claudia Schmid. Berlins Verfassungsschutzchefin weiß: Zumindest für heute hat sie die Schredder-Affäre überstanden.

Dabei wiegt der Vorwurf, dessentwegen Schmid am Freitag zu einer Sondersitzung des Verfassungsschutzausschusses zitiert worden ist, schwer. 57 Neonazi-Akten hatte ausgerechnet ihr zuständiger Referatsleiter Ende Juni vernichten lassen. Nach Monaten NSU-Debatte. Und obwohl 32 davon zur Archivierung vorgesehen waren. Nach all dem Ermittlungsversagen zum NSU, sagt die Grüne Clara Herrmann gleich zu Beginn der Sitzung, sei nicht auszuschließen, dass absichtlich geschreddert wurde.

Innensenator Frank Henkel (CDU) nennt das Aktenhäckseln „nicht entschuldbar“. Vernichtet wurden auch Ordner zur Band „Landser“, in deren Umfeld sich NSU-Vertraute tummelten. Ein „handfestes Problem“, das nicht hätte passieren dürfen, grummelt auch Stephan Lenz (CDU).

Dirk Feuerberg, der von Henkel eingesetzte NSU-Sondermittler, sieht dagegen keine Hinweise auf „bewusste Täuschung“. „Hätte der Mann wirklich vertuschen wollen, hätte es andere Wege gegeben.“ Der Oberstaatsanwalt war am Montag beauftragt worden, den Vorfall aufzuklären.

Wie der Irrtum zustande kam, könne auch er nur mutmaßen, sagt Feuerberg. Die Akten jedenfalls seien klar mit „L“ fürs Landesarchiv markiert gewesen. Auch eine Liste habe es gegeben. Am Ende hätten alle Akten aber zusammen in unbeschrifteten Kartons gelegen. Die habe der Referatsleiter mit zwei Kollegen an zwei Tagen komplett entheftet und zum Schreddern übergeben. Dass dies der Chef selbst tat, habe er mit „Nörgelei“ seiner Mitarbeiter über solche Arbeiten begründet, so Feuerberg.

Die Grüne Herrmann nennt „rein menschliches Versagen“ unter diesen Umständen „schleierhaft“. Dann attackiert die Opposition den Innensenator, der erst am Dienstag über den Vorfall informiert hatte. Verfassungsschützerin Schmid räumt ein, dass ihr Haus seit dem 1. Oktober Bescheid wusste. Da sie aber im Urlaub gewesen sei, habe sie Henkel erst am 15. Oktober informieren können. Doch auch der schwieg vorerst, auch auf der Ausschusssitzung am 17. Oktober. „Wir sind keine Bittsteller“, poltert Herrmann. „Das Parlament hat ein Rechtsanspruch, informiert zu werden.“

Frank Henkel verteidigt sich: Er habe sich erst „sorgfältig“ informieren müssen, vieles sei am 15. Oktober unklar gewesen. Was, lässt der Senator offen. Aber bei der Unterrichtung war der verantwortliche Referatsleiter dabei. Den hätte er ja fragen können, sagen die Grünen.

„Unfug“, findet Henkel. Er wird selbstsicherer, löst sich vom Stichwortzettel. Und verkündet Konsequenzen: Künftig sollen aussortierte Akten getrennt aufbewahrt und schneller entsorgt werden. Die jetzigen lagen bereits seit 2009 herum, es war die die erste Schredderung seit vielen Jahren.

Personelle Konsequenzen schließt Henkel vorerst aus: „Ich werde keine vorschnellen Urteile fällen.“ Und SPD-Mann Thomas Kleineidam sagt, es müsse über bessere Abläufe diskutiert werden, jetzt, da die „Verantwortlichkeit“ klar sei. Beim Verfassungsschutz ist die Botschaft angekommen. Intern wird spekuliert, dass der Referatsleiter, der schon vor der Affäre krankgeschrieben war, wohl eher nicht auf seine Stelle zurückkehren wird.