: Zauberhaftes Schnüffeln am Hals des anderen
AROMA Sinneseindrücke, die man sonst kaum aushält: der Debütroman „Die Schüchternheit der Pflaume“ von Fee Katrin Kanzler
Vielleicht sollte man, bevor man dieses Buch liest, alle Fenster schließen und alle elektrischen Lichter ausmachen und eine Kerze anzünden. Irgendwie so etwas. Außerdem alle schmutzigen Wörter aus dem eigenen Kopf rausscheuchen und Ohrwürmer vertreiben. Und den Kaugummi rausnehmen. „Die Schüchternheit der Pflaume“ von Fee Katrin Kanzler ist so voller Sinneseindrücke und Empfindungen, die in unglaublich poetische Sprache gefasst sind, dass man es ansonsten nicht aushält. Man darf es auf keinen Fall in der U-Bahn lesen.
Wer den Alltag mitnimmt in den Roman, denkt schon auf der ersten Seite: Geh weg. Das ist zu viel. Zu viel Empfindsamkeit und Feinfühligkeit, Kitsch, Kitsch, Kitsch! Und dann liest man weiter. Weil man nicht anders kann. Und denkt: Oh. Oh. Oh.
Fee Katrin Kanzler, 1981 in Ulm geboren, hat mit ihrem Romandebüt „Die Schüchternheit der Pflaume“ eigentlich gar keinen Roman geschrieben, sondern ein Gedicht auf 318 Seiten. Es ist so voller ungewohnt fragiler und bildreicher Sprache, dass man beim Lesen fast reizüberflutet wird. Die Mischung aus Hochkultur und Kleinigkeitenmeditation hat etwas sehr Einnehmendes. Pflaumenhaut, Mozarts Requiem, eine Kaffeepackung, Latein, eine Cocktailparty auf Eichenparkett, der Mond, der Samtbezug auf einem Hocker. „Das Licht ist mild und langsam wie Honig.“ Ein Sinnesporno. Im positiven Sinne.
Die Ich-Erzählerin ist eine junge, bekannte Musikerin, deren Namen man nicht erfährt und die ihren Tag erzählt. Sie gibt Konzerte, trifft Männer, schläft, liebt und streitet. Ihre komplizierte, unberechenbare Persönlichkeit wäre vielleicht unsympathisch, wenn man nicht beim Lesen so tief in sie hineinrutschen würde, dass man nicht anders kann, als alles zu verstehen, alles gutzuheißen, was sie tut.
„Der Kick des Abends ist Knäckebrot essen unter der Dusche“, sagt sie, und man denkt nur: ja, logisch, irgendwie. Nachvollziehbar auch, wie sie weint, weil keiner der Raben auf der Wiese sich zu ihr setzen will. „Sie umhüpften mich, krächzten und knarzten, aber keiner kam auf meine Wolljacke. Keiner kam zu meiner Hand. Ich will kein Mensch mehr sein.“ In den Kapiteln „Mandelseife“ und „Kirschkerne“ ist sie auf einen ihrer Männer sauer, will ihm am liebsten einen Bleistift in die Brust rammen. Dann aber reißt sie doch nur seine Brusttasche vom Hemd („Das ist besser“) und hat mit ihm in der Badewanne Sex. „Dein Sperma wirbelt als kleiner Cirrus durch den Abfluss.“
Thomas E. Schmidt schrieb vor Kurzem in der Zeit, die junge Generation von Autorinnen und Autoren wage sich kaum an das Thema Sex: „Viele Verliebtheiten, aber kein aktiv sündiges Fleisch.“ Fee Katrin Kanzler muss sich an das Thema nicht heranwagen, es fügt sich natürlich in die Geschichte und gehört dazu, wie essen oder rauchen. Sie muss aber auch nichts zur Sünde heraufbeschwören. „Ich knülle einen Bettdeckenhügel unter mich, treibe mich binnen Sekunden in süße Vergessenheit, ein simpler Erstklässlerorgasmus. Muschelsaft, salziges Aroma, Frauenduft, mit einem Finger unter der Nase schlafe ich ein.“
Es ist diese Nähe, ein unmittelbares Mitfühlen beim Lesen, das „Die Schüchternheit der Pflaume“ zu einer wunderschönen und ergreifenden Erzählung macht. „Ich überlege“, sagt die Hauptfigur, als sie versucht, eine Frau kennenzulernen, die ihr gefällt, „welche Beleidigung sie wohl am härtesten träfe. Wofür sie lebt, wer sie ist. Wie wohl ihr Hals riecht und ob sie verwirrt wäre, wenn ich daran schnüffelte. Oder ist genau das Freundschaft, ohne Verwirrung am Hals des anderen schnüffeln zu dürfen, denke ich.“ Es ist auf jeden Fall genau dieses Schnüffeln, das dieses Romandebüt so charmant macht und so zauberhaft.
MARGARETE STOKOWSKI
■ Fee Katrin Kanzler: „Die Schüchternheit der Pflaume“. FVA, Frankfurt/M. 2012, 318 Seiten, 19,90 Euro