Schwarz-gelbe Spielarten des Möglichkeitssinns

Ins Bett mit den eigenen konservativen Eltern: Rund um die Jamaika-Koalition läuft die Fantasieproduktion derzeit fröhlich auf Hochtouren

Wie immer man zu Jamaika steht, auf kulturellem Gebiet hat dieses Gedankenspiel bereits einiges bewirkt. Hauptsächlich zwar in der Kunst der Karikatur, aber immerhin. Man kann sich ja sofort vorstellen, wie bei Dreadlocks und Tüte der Finger am Zeichenstift juckt. Überhaupt läuft die Fantasieproduktion an diesem Punkt fröhlich auf Hochtouren. Immerhin etwas in der Politik, das sich neben dem zum Rückzug entschlossenen Joschka Fischer bewegt. Wenn auch nur im „Was wäre, wenn …“-Modus.

Insofern mögen die ernsthaften politischen Kommentatoren Recht haben. Aber sie haben auch etwas Spielverderberisches. Stimmt schon, das Ganze ist ein Trick. CDU/CSU und FDP müssen plausibilisieren, dass sie eine Kanzlerperspektive jenseits der SPD haben. Aber so ein Gedankenspielzeug will man sich nicht so leicht wegnehmen lassen. Man will es behalten – und sei es nur, um sich bereits vorausschauend aufregen zu können.

So viel zu den Fantasien, die Jamaika auslöste. Aber welche Fantasien liegen der Idee eigentlich zugrunde? In dieser Zeitung ist es gestern immerhin gelungen, ödipale Motivlagen ins Spiel zu bringen, das „In bed with Angie“ wurde mit einer Rückkehr der verlorenen grünen Brüder und Schwestern zu den konservativen CDU-Eltern in Verbindung gebracht. Wirkt etwas ausgedacht? Klar. Aber zumindest kann man lernen, wie hoch die Latte hier hängt: Eine Liebesgeschichte reicht nicht, um die Verbindung von Grün zu Schwarz-Gelb zu motivieren, es muss schon eine mit den eigenen Eltern sein. Das zeigt an, wie viel man in seinem Seelenapparat in Bewegung setzen muss, um Jamaika akzeptieren zu können (bei Rot-Grün reichten Erzählungen vom Abschütteln alter Flausen). Fraglich bleibt allerdings, ob es vielen Menschen gelingt, die Schwampel derart libidinös zu besetzen. Irgendetwas zu Sublimierendes findet man in sich ja eigentlich immer – es auf Angie zu projizieren muss aber nicht jedem gelingen.

Bei der CDU/CSU und FDP hat man es da wohl leichter. Man braucht nur seinen inneren Schlipsknoten zu lockern und den Möglichkeitssinn zu entdecken. Mit dem kannte sich niemand so gut aus wie Robert Musil. In seinem Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ hält er ihn bekanntlich dem Wirklichkeitssinn entgegen, um dann allerdings wiederum zwischen zwei Spielarten des Möglichkeitssinns zu unterscheiden. Dem einen geht es darum, „noch nicht geborene Wirklichkeiten“ zu entdecken; und es mag sein, dass manche Jamaika-Fantasie bei Schwarz-Gelb darum kreist – allerdings darf man dann nicht nur andere auffordern, sich neu zu erfinden, sondern muss zur Selbstneuerfindung begabt sein. Die andere, von Musil nicht favorisierte Spielart aber ist die Form des Möglichkeitssinns, „welche die Wirklichkeit nicht begreifen kann oder ihr wehleidig ausweicht“. Wenn diese Spielart nicht mal eher zutrifft! Sollte Jamaika klappen, hätte Schwarz-Gelb die Wahl doch noch gewonnen. Klar, dass so eine Möglichkeit der Fantasie Beine macht.

Man muss sich ja aber nicht jede Fantasie an die Macht wünschen. DIRK KNIPPHALS