Vorsicht vor den kleinen Teilen

Erste Bürgerjury in Europa hat ihr Urteil über Nanotechnologie gefällt. Sie fordert umfangreiche Tests vor der Zulassung. Schrumpfen macht manchen Stoff giftig

HAMBURG taz ■ Seit einiger Zeit verkünden Wissenschaft und Industrie, dass eine gewaltige technische Revolution bevorsteht: die Nanotechnik. Mit Hilfe von Molekülen und Teilchen, deren Durchmesser nur einige Millionstel Millimeter beträgt, sollen etwa perfekte Krebstherapien, winzige Computerchips mit ungeheurer Rechenkraft und Stoffe mit verblüffenden Eigenschaften möglich werden. Euphorische Prognosen erwarten Milliardenmärkte und die Regierungen der Industriestaaten fördern die Nanoforschung derzeit mit rund 4 Milliarden Euro pro Jahr. Wo so viel Geld im Spiel ist und alles besser werden soll, möchte man sich mit den eventuellen Nebenwirkungen nicht lange aufhalten.

Doch genau die haben erste toxikologische Studien zutage gefördert: Die Kleinstteilchen bewirken nicht nur Wunder, sondern können auch Zellen und Organe schädigen. Zwar versichert die Nanotech-Gemeinde, man wolle „aus den Fehlern der Gentechnikdebatte lernen“ und einen Dialog mit der Öffentlichkeit suchen. Aber bei solchen Absichtserklärungen ist es bislang geblieben.

Nun haben Greenpeace in Großbritannien und die britische Tageszeitung Guardian gemeinsam mit Wissenschaftlern der Universitäten Cambridge und Newcastle die Debatte in Gang gebracht. Sie riefen die so genannten „Nanojury“ ins Leben. Dieses Komitee aus zwanzig Bürgern, das erste zum Thema in Europa, hat gestern nach fünfwöchiger Beratung mit Experten und Kritikern sein „Urteil“ über die neue Technik abgegeben: zehn vorläufige Empfehlungen an Politik und Nanoforschung.

Wenn öffentliche Gelder investiert werden, sollten sie in langfristige Themen wie Gesundheit und Umweltprobleme fließen, empfiehlt die Nanojury unter anderem. Vor allem solle die Entwicklung neuer Technologien der Solarenergie gefördert werden. Auch auf die Frage, wie mit den möglichen Gefahren von Nanomaterialien umgegangen werden soll, hat die Jury ebenfalls eine klare Antwort: „Künstlich hergestellte Nanopartikel sollen vor einer Freisetzung in einer kontrollierten Umgebung getestet werden, als ob es sich um neue Stoffe handelt.“ Zudem sollten sie „klar gekennzeichnet werden“.

Damit folgen die Bürger den Empfehlungen, die bereits die britische Royal Society oder die Rückversicherung Swiss Re ausgesprochen hatten. Denn Stoffe, die bisher als nicht giftig bekannt sind, können im Nanoformat toxisch sein. Ein Beispiel ist Titandioxid, das in Sonnencreme die UV-Strahlung schluckt: Mikrometer große Körnchen sind harmlos, während tausendmal kleinere Nanokörnchen sich in Tierversuchen plötzlich als problematisch entpuppten.

Vor allem die Industrie konnte sich mit dieser Erkenntnis bislang nicht recht anfreunden, weil daraus folgt, dass im Prinzip sämtliche bekannten Materialien erneut untersucht werden müssen – ein enormer Forschungsaufwand, der die Entwicklung neuer Produkte verzögern könnte. Der häufig von Seiten der Industrie geäußerte Wunsch, in der Nanoforschung sollte es weniger ethische Kontrollen und Regierungsbürokratie geben, fand in der Jury aber nur wenig Zustimmung.

Für den Physiker Richard Jones, den Vorsitzenden des wissenschaftlichen Beirats der Jury, beweist das Projekt: „Man muss kein Experte sein, um tief gehende Fragen zu stellen.“ Jim Thomas von der kanadischen ETC Group, die vehement die möglichen Risiken der Nanotechnik anprangert, findet gar, dass die Laien der Jury „bessere Fragen gestellt haben, als es etablierte Wissenschaftsgremien je tun“. Eine Ohrfeige haben die Bürger dann auch den Fachleuten aus der Forschung ausgeteilt: „Wissenschaftler sollten ihre Kommunikationsfähigkeiten verbessern“, lautet die letzte Empfehlung. NIELS BOEING