: Visite beim Tod
AUS BERLIN MAREKE ADEN
Der Tod hat keine Eile. Das sagt Dr. Heinz Hummel. Und er tut gut daran, so zu sich zu sprechen, denn auf dem langen Weg von Berlin-Wedding nach Berlin-Lichtenberg vergeht eine Stunde, und wenn man ständig mit ihm zu tun hat, dem Tod, dann hat man besser ein paar morbide Sprüche parat. Hummel stellt nämlich einmal im Monat Totenscheine aus, er ist einer von rund 70 Bereitschaftsärzten in Berlin, die das machen. Er heißt übrigens nicht wirklich so, aber er möchte nicht, dass seine Patienten von seiner zweiten Tätigkeit als Leichenschauarzt erfahren. Er sagt, ihm wäre nicht recht, wenn „die Lebenden von den Toten wüssten“, und bittet: „Schreiben Sie einfach Dr. H. oder so etwas.“ Es klingt, als würde er als Mörder gesucht. Hummel soll aber helfen, Mörder zu finden, indem er die Toten in Ermordete und andere Verstorbene einteilt.
Denn bisher konnte in Deutschland jeder approbierte Arzt einen Totenschein ausstellen. Hausärzte, Augenärzte oder Orthopäden kennen den Tod aber nicht so gut. Einmal hat ein Mediziner bei einer ordentlich bekleideten Dame „natürlicher Tod“ angekreuzt. Erst kurz vor ihrem Begräbnis fiel unter der Bluse ein Strick auf, den sie um den Hals trug.
Auf solche Weise kommt es, dass von 900.000 Menschen, die in Deutschland jährlich sterben, zwischen 1.000 und 2.500 unerkannt Ermordete sind. Niemand wird nach ihren Mördern suchen. Die Bundesländer Brandenburg, Bremen und Berlin haben deswegen das Bestattungsrecht geändert und so kommen Leute wie der Berliner Dr. Hummel zum Einsatz, Leute, die ihren Blick auf den Tod in speziellen Kursen auf Mordindizien hin schärfen.
Wenn Hummel bei einem der Toten ankommt, dann wartet die Polizei schon auf ihn. In Lichtenberg muss sie über eine Stunde warten. Hier ist vor zwei Tagen Margret L. gestorben. Sie wurde 88, hatte etwas mit der Galle, nachts musste sie aufs Klo und hat den Sitz nicht wieder verlassen. „Noch im April haben wir sie umgezogen“, sagt ihr Schwiegersohn. Sie hat sich in der neuen Wohnung nie wohl gefühlt. Die Nachbarin sagt im Treppenhaus: „Sie hatte einfach keine Lust mehr.“
Dr. Hummel hört nichts davon. Er untersucht den Tod von Margret L., wie er es in seinem Wochenendkurs gelernt hat, das dauert zehn Minuten. Dann sucht er nach letzten Zeichen aus dem Leben von Margret L. Ein Rezept vom Arzt stammt aus dem März, Fahrkarten für eine Tagesreise vor einer Woche hat sie nicht benutzt, aber sie soll noch vor drei Tagen gesehen worden sein, das sagt ihr Enkel.
Hummel setzt sich ins Wohnzimmer. Um ihn herum stehen der Schwiegersohn, der Enkel, die Polizisten. Fast hundert Gesichter starren aus allen Ecken auf die Gruppe, die der Tod zusammengeführt hat. Puppen, Porzellanprinzessinnen, Teddybären. Die Wanduhr tickt laut, es ist das einzige Geräusch.
Dr. Hummel füllt seelenruhig Formulare aus. Der Tod muss geregelt werden. Er schreibt die Krankenkassenkarte ab und macht hier und da ein Kreuzchen. Der Tod von Margret L. ist ungeklärt, denn ihr Hausarzt ist nicht zu erreichen. Wenn der sagt, dass der Tod erwartbar war, weil jemand schon lang an einer Krankheit leidet, dann kreuzt Hummel „natürlicher Tod“ an, sonst nicht. Dass die Frau nicht erwürgt oder erdolcht wurde, das konnte er sehen. Aber es gibt eben auch Gifte, und alte Damen haben oft noch etwas zu vererben. „Todesursache ungeklärt“ anzukreuzen hat für Dr. Hummel auch den Vorteil, dass er Margret L. nicht ganz so genau untersuchen muss. Endgültig aufklären werden den Tod nun die Kriminalpolizei, die die Wohnung nach Spuren eines Verbrechens untersucht, und dann eventuell die Pathologen, die die Tote sezieren.
Die Polizei wird also bei Margret L. bleiben, in der Wohnung mit den vielen Gesichtern, und auf die Kripo warten. Hummel muss noch klären, wie er an sein Geld kommt. „Pekuniärer Natur“ sei sein Interesse an der Leichenschau, sagt er, die Leichen finde er doch eher „ekelhaft“, besonders wenn sie schon gefault sind. 93,27 Euro bekommt er für seine Arbeit, darin sind die Kilometerpauschale enthalten und 77 Euro, der 2,3fache Satz einer Summe aus der privaten Gebührenordnung, denn Tote können nicht Mitglieder der gesetzlichen Krankenkassen sein. „Das Leben gehört auch zum Tod“, sagt der Schwiegersohn zum Leichenarzt, nachdem das Finanzielle geregelt ist. Auch das ist richtig, denn Hummel muss eilig weiter. Der Tod hat ihm in Lichtenberg zu einem weiteren Einsatz verholfen.
Zwei Kilometer weiter haben Nachbarn Detlef L. seit vier Tagen nicht gesehen und die Polizei alarmiert. Detlef L. hat diese vier Tage neben dem offenen Fenster in der prallen Sonne gelegen. Das haben die Polizisten gleich gemerkt, nachdem sie die Tür aufbekommen hatten. Als Dr. Hummel ankommt, hat der Ekel aus ihnen Menschen gemacht, die nicht mehr pietätvoll sein, nur grinsen können. „Ich geh da nicht rein“, sagt die Polizistin und kichert, als ginge es um eine Geisterbahn, in die sie sich nicht traut. Detlef L. soll schon eine Bypass- Operation hinter sich haben, auf seiner Vitrine steht eine Schnapslatte, ein längliches Tablett mit acht Löchern, in denen Gläser stecken.
Die Beamten wollen weg, auf Streife. „Es gibt ja auch Ärzte, die sagen in so einem Fall, das war das Alter“, drängelt der eine Dr. Hummel. Aber Detlef L. war trotz seines Herzens schon lange nicht mehr bei der Hausärztin, die mag daher keine Auskunft geben. Hummel ist auch deswegen im Einsatz, weil zu viele Ärzte sich von weinenden Angehörigen oder ungeduldigen Polizisten drängen lassen und „natürlicher Tod“ ankreuzen in der Hoffnung, dass es nur im Krimi jede Woche Mörder gibt. Hummel bleibt ruhig und kreuzt wieder „ungeklärt“ an, die Polizisten müssen bleiben. Sie schmollen. Trotzdem erklären sie sich bereit, die Formulare für Hummels Entlohnung weiterzuleiten. „So isses nun mal“, sagt die Beamtin, „Tote können nicht bezahlen.“
Eine Stunde später stehen die Schwester des toten Bernd N. und ihr Mann und die Polizei vor einer Haustür im schicken Mitte und diskutieren laut. Die Schwester gibt Hinweise auf Mordmotive missgünstiger Nachbarn. Sie hatte ihren Bruder und dessen Frau schon lange nicht mehr gesehen, sich Sorgen gemacht, bei ihrer Ankunft in der Wohnung aber nur noch ein Röcheln gehört. Es war das Röcheln ihrer Schwägerin, die im Alkoholdelirium neben dem Toten lag und inzwischen im Krankenhaus ist. Nur knapp 30 Euro bekommt Dr. Hummel diesmal für sein Kreuz bei „ungeklärt“, weil Bernd N. Sozialhilfeempfänger war, die Sozialbehörden nur 14,57 Euro zahlen und der kurze Weg von Mitte zu seiner Praxis sich negativ auf die Kilometerpauschale auswirkt. Deshalb ist Hummel nicht besonders gut gelaunt, als er seine Formulare ausfüllt. Während die Kripo den Tod mit dem Spruch „Wird ’ne Wohnung frei“ auf Abstand hält, wirft Hummel noch einen Blick auf die von Fliegen bedeckte Leiche. „Der sieht tot aus“, sagt er.
Am Ende wird der Tag etwas besser. Otto P. ist ein schöner Toter. Mit 61 ist er in Reinickendorf entschlafen, friedlich liegt er im Bett, eingerollt unter der Decke. Im Leben hat er sich für Geschichte interessiert, neben ihm liegt ein aufgeschlagenes Buch über die SS. Die Tochter spricht von der Zirrhose und vom fortgeschrittenen Stadium. Sie ist Ärztin. Das ist der Grund, warum es dann doch etwas länger dauert. Die Hausärztin war nicht mehr zu erreichen. Hummel muss ein viertes Mal „ungeklärt“ ankreuzen. „Ich habe der Tochter damit quasi unterstellt, dass sie ihren Vater umgebracht haben könnte“, sagt er hinterher. Dr. Hummel spricht leise und lang auf sie ein. Die beiden fachsimpeln, bis die Ärztin Verständnis zeigt. Es ist halb acht am Abend. Die Pizza-Verabredung von Dr. Hummel hat abgesagt. So spät will sie nicht mehr zum Italiener. Der Tod ist kein einfaches Geschäft.