„Es sind verlorene Söhne …“

Hatun Aynur Sürücü wurde ermordet, weil sie „wie eine Deutsche lebte“. Die Betroffenheit über die Gewalt in muslimischen Familien ist groß. Aber: Was treibt junge muslimische Männer zum Mord an ihren Nächsten? Unter welchem Druck stehen sie, welcher Moral sind sie verpflichtet? Eine kennt sich aus: die Sozialwissenschaftlerin Necla Kelek. Sie sagt: „Sie kennen die Liebe nicht“

INTERVIEW JAN FEDDERSEN
UND MARTIN REICHERT

taz: Frau Kelek, an welcher Macht ist Hatun Aynur Sürücü gescheitert?

Necla Kelek: An der ihrer Familie. Auch ein sozial aus der Unterschicht stammender Mann versucht sehr früh zu heiraten und eine Familie zu gründen. Mit ihr hat er dann einen, seinen Ordnungsstaat gegründet. Und je mehr Söhne er hat, desto stärker wird sein Staat, nach innen wie nach außen.

Ist das Familienoberhaupt, der Staatspräsident weniger wert, wenn er nur Mädchen gezeugt hat?

Nur Töchter als Kinder? Ha! Dann hätte er keinen Staat. Seinen Staat bildet er mit seinen Söhnen, die Hauptaufgabe dieser Staatsmitglieder ist es, die Ordnung so aufrechtzuerhalten, dass die weiblichen Mitglieder im Haus unter Kontrolle sind. Über die bestimmen sie dann: etwa, ob sie zur Schule gehen dürfen oder nicht.

Warum sind Mädchen weniger wert?

Weil sie für die Männer auf die Welt kommen. Das ist ein muslimischer Gedanke. Die Frau ist die Sünderin, die ihn verführt hat zum Ungehorsam gegenüber Gott. Sie ist jene, die beim Mann den Trieb weckt, dafür muss sie zahlen.

Was war die Sünde der Hatun Aynur Sürücü?

Dass sie ihre Familie verlassen hat und damit genau die Ordnung, die in diesem Haus herrschte, durchbrochen hat. Sie hat den Männern damit bewiesen, dass sie versagt haben.

Worin, bitte?

Dass sie nicht einzusperren war – und der Macht des Vaters und der Brüder getrotzt hat.

Die Männer der Familie Sürücü müssen dies als tiefe Kränkung empfunden haben.

Ja, und der Vater macht natürlich seine Söhne verantwortlich: Habe ich euch so erzogen, dass ihr versagt und nicht auf eure Schwester aufpasst? Sobald er seine Söhne bekommen hat, kann er sich zurückziehen. Er geht in ein Männercafé. Das heißt: Ich habe meine Macht weitergegeben.

Aber müsste es für die Brüder nicht unerträglich sein, die eigene Schwester prügeln, gar töten zu müssen?

Sie wissen ja nicht, dass sie etwas Schlimmes tun, denn es gilt ja das Gesetz der Väter.

Aber Geschwister haben doch eine Bindung …

… sie kennen sich doch kaum. Das Mädchen wird rasch Teil der Frauengesellschaft. Der Junge jedoch muss draußen sein, bestehen, sich raufen. Und dann kommt er nach Hause, wird bedient, Hausschuhe werden ihm herangebracht, ganz wie dem Vater. Was ihn am meisten verletzt, ist, wenn das Mädchen sagt: Ich mache, was ich will.

Ist er dann kein Mann mehr?

Ja, und er schämt sich auch vor dem Vater: dass der arme Vater so leiden muss.

Geht es also immer um Liebe zum Vater?

Liebe? Nein. Es geht nie um Liebe, wie wir sie verstehen. Es geht hier um die Herstellung von Ordnung. Liebe gibt es im Islam nur zu Gott. Gott liebt man, aber Ordnung hält man.

Eine Tragödie für die Brüder?

Nein, denn sie mögen die Schwester nicht, wenn sie in der Öffentlichkeit mit einem Mann – einem deutschen außerdem – sich küsst. Sie fühlen sich von morgens bis abends persönlich von ihr beleidigt, da baut sich solch ein Hass bei ihnen und Angst bei den Schwestern auf.

Kennen diese Jungs Liebe?

Liebe? Ja. Die Liebe zur Mutter ist unendlich. Für die Liebe zur Mutter würden sie ihr Leben geben.

Wir meinten Liebe im Sinne von Verliebtheit.

Nein, das können Sie vergessen. Sich verlieben heißt sich verlieren. Das versucht man zu vermeiden, indem man eine Wildfremde holt, die er nicht bestimmt hat. Genau, um diese Liebe zu vermeiden, denn dann würde sich das Paar verselbstständigen, sie wären dann ein Bund – ein Nebenstaat quasi.

Ist deshalb türkische Musik oft so traurig?

Volkslieder kann ich nicht ertragen, ich breche immer in Tränen aus. Allein wenn ich darüber erzähle …

warum?

Weil sie von der Sehnsucht nach dieser Liebe erzählen, die man nicht haben darf: O Falke, sie haben sie mir genommen / Nun ist sie die Braut eines anderen / O Falke, nimm mich mit fort, ich kann es nicht ertragen

Die Liebe ist unmöglich?

Ja, denn Liebe ist Freiheit. Zur Liebe gehört dazu, dass man verletzt wird, weil der Geliebte auch weggehen kann. Vor diesem Ausgeliefertsein, vor diesem Gefühl versucht man sich immer zu schützen, hart zu werden. Es geht hier nicht um Liebe, sondern darum, dass wir dieses Leben bestehen, dass wir Gott gehorchen. Außerdem gehört die Liebe ja eigentlich der Mutter, und die fühlt sich dann verraten, wenn er sagt: Du, ich liebe jetzt Aysche.

Ungütige Härte: Wer streichelt diese Jungs eigentlich?

Die Mutter. Aber wenn die Jungs älter werden, hört das auf. Das würde der Vater schon nicht erlauben, weil die Söhne sonst nicht groß und stark werden und sein Erbe antreten.

Die Mütter machen das mit?

Der Frau, den Müttern, Tanten und Töchtern, wird suggeriert, dass sie keine Rechte hat, dass sie ein Teil des Systems ist, dem sie sich unterzuordnen hat. Sie wird natürlich erst verwöhnt, auch vom Vater. Aber sobald sie in die Pubertät kommt, ist Schluss damit, dann muss er sie disziplinieren, weil er dann Angst hat, sie könnte ausarten. Er muss ihr dann Härte zeigen.

Wie erleben türkische Jugendliche ihre Sexualität?

Sexualität? Die Hochzeitsnächte sind, wenn es Zwangsheiraten waren, gesellschaftlich organisierte Vergewaltigungen. Der Mann wird auf diese Nacht hin erzogen, er hat ein paar Stunden Zeit, die gesamte Hochzeitsgesellschaft steht vor der Tür, und das blutige Laken muss präsentiert werden

Der Mann steht offenbar unter mächtigem Druck.

Grauenhaft! Und das geht dann so, dass er, mir haben ja so viele Frauen davon erzählt, der springt da halt auf sie und muss es hinter sich bringen. Den Beweis antreten. Da habe ich gehört, dass sich die Frau dann schneidet, irgendwo Blut tropfen lässt, mit einem Messer rangeht und sich aufschlitzt, weil er es nicht kann. Sie ist ja dafür zuständig, dass er als Mann dasteht.

Auch allein verantwortlich?

Immer. Nur sie hat einen Ruf zu verlieren. Sonst heißt es: Ach, dein Mann konnte dich nicht einmal schwängern.

Gibt’s denn eine Vorstellung von Spaß, Befriedigung in der Sexualität?

Habe ich von niemandem gehört. Als ich vierzehn Jahre alt war, sagte mir meine Tante: Er kommt und entleert sich. Wenn du dich nicht bewegst, dich steif machst und deine Hände zu Fäusten, dann ist er ganz schnell fertig. Wenn du dich zu sehr bewegst, dann wird er sich lange an dir aufhalten.

Ist der weibliche Orgasmus, ist der Spaß ihrer Frauen eine Dimension unter türkischen Männern?

Kein Thema, ach was. Er muss doch nur kommen!

Schön scheint das nicht, auch nicht für die Männer.

Nein, sie sind für mich die verlorenen Söhne, auch was die Integration angeht. Sie werden zu einem bestimmten Typen gemacht, zu einem Wesen, das ihrem Ich nicht entspricht. Sie werden in diesem Wir groß und sind gleichzeitig von der Nestwärme ausgeschlossen.

Inwiefern?

Die meisten sagen mir, wenn sie die Schule nicht schaffen, und sie sind ja generell schlechter als die türkischen Mädchen in der Schule: Wo hätte ich denn meine Schulaufgaben machen sollen, ich habe ja zu Hause keinen Platz. Tagsüber gehört das Haus den Frauen, nachmittags treffen sie sich zum Tee, die kleine Schwester bedient sie dabei. Da kann der kleine Junge nicht einfach aus der Schule kommen und sich dazwischen setzen. Der stört, der muss raus.

Deprimierend.

Meinen eigenen Bruder habe ich ab 16 nicht mehr gesehen. Er hätte ja nicht mal Besuch mit nach Hause bringen dürfen, weil ich ja da war. Er wurde schon verspottet, weil er mit 15 immer noch zu Hause rumhing.

Das heißt, bildungspolitisch sind diese Jungen verloren?

Was ich erfahren hab, ist das: Wenn eine Schule bis vier Uhr nachmittags geöffnet hat, wird das vor allem von türkischen Mädchen und Jungen in Anspruch genommen. Die Mädchen müssten sonst zwei Stunden mehr putzen oder ein Kind betütteln.

Die sind froh, aus diesen familiären Zwängen herauszukommen?

Alle Kinder, die ich befragt habe, sagen: Hier in der Schule bin ich zu Hause, hier werde ich verstanden. Zu Hause ist das Mädchen die Putzfrau, und der Junge ist auf der Straße.

Um noch einmal über Sexualität zu sprechen: Sprechen die Jugendlichen über Begierde, über die Sinnlichkeit zwischen den Geschlechtern?

Wenn das so wäre, würde man die Frauen ja nicht unter das Kopftuch stecken. Man beschützt die Frauen vor den Blicken der Männer, damit diese Gedanken nicht aufkommen. Die Frau wird ja als ein abstraktes Wesen für Beischlaf und Reproduktion gesehen, idealtypisch trifft man sich in der Hochzeitsnacht und überlässt sie dann sich selbst. Wie er das macht, ist ihm überlassen, zärtlich oder schnell. Begehren? Das sind alles europäische Gedanken.

Haben Sie nicht Angst, dem Rassismus Vorschub zu leisten?

Das ist für mich so absurd, dass ich nicht einmal weiß, was ich sagen soll. Ich spreche hier von Menschenrechtsverletzungen, von Unfreiheit, von Menschen, die ihre Leben nicht leben können. Dieses zu verschweigen, ist für mich Rassismus.

Sie antworten sehr erregt. Gibt es denn keine Hoffnung?

Mich berührt der Fall der ermordeten Hatun Sürücü zutiefst. Ich gehe regelmäßig zum Prozess – und ich lass mir von den „Ehrenmördern“, die ich für mein neues Buch befrage, berichten. Ich will verstehen.

Was?

Woher die Gewalt rührt. Hatun Sürücü darf nicht umsonst gestorben sein.