Berliner Szene: Zeit rausfahren
23 °C, 00:32
Nachts halb eins von Neukölln nach Hause. Der Beton dünstet die Hitze des Tages aus. Es fühlt sich an, als würde man mit dem Fahrrad durch warmes Wasser fahren. Man könnte Zucchinistreifen auf die Straße legen – schön mariniert in Olivenöl mit Pfeffer und Salz – und sie gleich vom Boden essen. Am S-Bahnhof Schönhauser sitzen drei Jungs mit Gitarren auf einem abgesperrten Gemüsewagen und jaulen in die Nacht hinaus. Ich glaube, sie denken, sie machten Musik. 23 °C sagt die Anzeige beim Optikerladen. Und dann 00:32. Der Zeiger der Uhr auf dem Mittelstreifen an der Kreuzung Wichert macht einen kleinen Schlenker nach rechts.
Ich kenne jede Uhr auf der Schönhauser Allee. Jede einzelne. Mein Blick wird von Uhren gelenkt. Auf Ampeln und andere Verkehrsteilnehmer achte ich intuitiv. Weil sie Teil des Stroms sind, in dem ich selber schwimme. Da sind Farben, Geräusche, bewegliche Teile, ich werde schneller, langsamer, bremse ab oder gebe Stoff. Mein Blick zur Uhr ist konzentriert. Uhren muss man richtig lesen, sie sagen einem nichts durch Farben oder Geräusche, wecken keine Assoziationen. Mal zeigt der Zeiger nach oben, mal nach unten. Jede Uhrzeit sieht irgendwie gleich aus. Bedeutet auch im Grunde immer dasselbe. Zumindest emotional. Meistens so was wie: „Oh Kacke, in 20 Minuten muss ich in Neukölln sein. Das schaff ich nie!“
Dann versuche ich, Zeit rauszufahren. Und dann Gnade denjenigen, die sich mir in den Weg stellen! Kinder, Hunde, Sonntagsradler, Rechtsabbieger. Wenn ich brülle, springen alle vor Schreck beiseite. Die Uhr am Oranienplatz ist die erste, wo ich wieder richtige draufgucke. Dann sehe ich, ob sich die Verluste gelohnt haben. Meist ist dem nicht so. Auf dem Rückweg bin ich immer entspannt. Krass, so warm, denke ich, um die Uhrzeit. Und fahre nach Hause.
Lea Streisand
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