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Über meine Begleiter oben auf den rostigen Leitungen, die das Foltern nicht miterleben wollenDie Ratten in meiner Zelle

Foto: privat

Nachbarn

Kefah Ali Deeb

Am dritten Tag in meiner Einzelzelle war mir das Zeitgefühl abhandengekommen. Auf einer Fläche von höchstens 4 m², umgeben von blutverschmierten Wänden, konnte ich nicht viel tun, außer auf mein unvorhersehbares Schicksal zu warten oder meine Mitbewohner zu beobachten.

Ich war die Neue auf dieser kleinen Fläche, die wir uns teilten, auf der die Ratten eigentlich ihre Zukunft beziehungsweise die Zukunft ihrer Familie begründen wollten. Im Laufe der Zeit gewöhnte ich mich an sie.

Sie saßen mir gegenüber auf den rostigen Leitungen, die kreuz und quer an der Decke verliefen. Wir unterhielten uns stundenlang. Manchmal unterbrachen sie die Unterhaltung und verschwanden hinter den Leitungen. Ich begann zu horchen, wie sie in der Decke und in den Mauern umherwanderten. Wenn sie zurückkamen, waren sie mit einer fetten Beute beladen, die sie bei den anderen Gefangenen geholt hatten. Offensichtlich bekamen sie größere Rationen als die Gefangenen.

Die Folterkammer war gegenüber meiner Zelle. Von dort aus vernahm ich stets Blutgeruch und – während der Folterzeiten dreimal täglich – die Schreie der Gefolterten. Ich kauerte in meiner Ecke und begann die Schläge zu zählen, die auf die Körper der Gefangenen niedergingen. Um selber nicht zu schreien, schloss ich die Augen, presste meine Hände gegen die Ohren und begann, leise vor mich hin zu singen.

Während der Folterzeit verschwanden die Ratten zumeist. Und wenn ich sang, dachte ich dabei stets an die Ratten. Ich machte die Augen auf und suchte sie auf den Leitungen – vergeblich. Ich dachte mir, sie verschwinden und verstecken sich, weil sie nicht erleben wollen, wie ein Mensch unter Folter gequält und getötet wird. Vielleicht ist es besser für Ratten, so etwas nicht zu erleben.

Eines Morgens erwachte ich mit einem ungewöhnlichen Gefühl. Als ich die Augen aufschlug, sah ich, wie eine Ratte mir gegenüber stand, während eine andere meine Handfläche ableckte. Ich schüttelte die Ratte von der Hand ab, stand auf und begann zu schreien. Die Ratten verzogen sich in ihre Löcher oberhalb der Tür, als diese plötzlich aufging und der Gefängniswärter mich anbrüllte, warum ich schreie? Hab ich dir nicht gesagt, dass ich deine Stimme nicht hören will?

Ich sagte ihm, dass die Ratten über mich herfielen. Er blickte mich verächtlich an und sagte: Du hast Angst vor Ratten? Ich schwieg. Er sagte: Wer Ratten fürchtet, braucht nicht nach Freiheit zu schreien. Er drehte sich um und schlug die Tür hinter sich zu.

Vielleicht dachte er, er könnte mich mit seinem lächerlichen Satz beeindrucken. Ich wandte mich den Ratten zu, die wieder aufgetaucht waren und mich genauso aufmerksam musterten wie ich sie. Ich fragte mich: Was haben die Ratten mit der Freiheit zu tun?

Als man mich entließ, erfuhr ich, dass die Raten der Grund meiner Haftentlassung waren. Denn ich war vom Rattenfieber befallen und aufgrund dieser Erkrankung wurde ich entlassen, damit ich nicht im Gefängnis sterbe.

Aus dem Arabischen von Mustafa Al-Slaiman

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