„Die Union braucht eine geistige Erneuerung“

„Die Union hat im Wahlkampf die Ängste der Menschen noch verstärkt“, sagt der frühere CDU-Generalsekretär Heiner Geißler. Er würde Schwarz-Gelb-Grün einer großen Koalition unter Angela Merkel vorziehen: „Das ist etwas Frisches“

taz: Herr Geißler, wird Angela Merkel Kanzlerin?

Heiner Geißler: Wie kann ich das wissen? Angela Merkel wird Kanzlerin, wenn es ihr gelingt, eine Koalitionsregierung zu bilden.

Und wie soll die aussehen?

Ich glaube, dass die Koalition Schwarz-Grün-Gelb etwas Neues und Frisches wäre in der verkrusteten Berliner Landschaft.

Aus welchen Gründen?

Das bedeutete für die Union und für die Grünen eine Öffnung und eine Beseitigung von Denkblockaden. Und auch inhaltlich könnte etwas Besseres herauskommen, als bisher produziert worden ist.

Sind die Differenzen zwischen FDP und den im Wahlkampf nach links gerückten Grünen nicht zu groß?

Was heißt denn links? Das sind doch alles Klischees. Die Grünen haben das Problem, dass sie selber wirtschaftsliberal geworden sind. Da sehe ich die Differenz nicht. Die Probleme liegen woanders: zwischen Union und Grünen in der Türkei-Frage etwa, oder in der Energiepolitik. Aber die CDU ist nicht für immer und ewig für Atomkraftwerke.

Haben sich mit Joschka Fischers Rückzug die Chancen auf ein Bündnis vergrößert?

Dass Fischer geht, ist schade. Er gehört zu den besseren Köpfen in Berlin.

Hätte Fischers Bindung an Gerhard Schröder einer Zusammenarbeit im Weg gestanden?

Dazu äußere ich mich nicht. Das ist Parapsychologie, von der ich nichts verstehe.

Was versprechen Sie sich von Schwarz-Gelb-Grün? Mehr als 50 Prozent der Wähler wollten doch keine wirtschaftsliberale Erneuerung.

Sogar weit mehr als 50 Prozent wollten das nicht. Von denen, die CDU gewählt haben, sind bestimmt zwei Drittel auch nicht damit einverstanden. Es liegt an der CDU. In einer großen Koalition wäre die Gefahr, dass man an diesem antiquierten marktliberalen Konzept festhält, noch viel größer. Die SPD hat dieser neoliberalen Ideologie ihre Seele verkauft, aber die Arbeitslosigkeit ist nicht gesunken.

Und was ist mit der Union?

Die Union darf jetzt nicht zur Tagesordnung übergehen: Sie muss ihre Inhalte neu überdenken. Die Union hat kein Marketingproblem, sondern ein inhaltliches Problem. Sie muss sich geistig fähig machen für ein Konzept, das die unvermeidliche Globalisierung human gestaltet. Dieses Konzept war nicht da. Die Union hat die Ängste der Menschen sogar noch verstärkt: durch die Zustimmung zu Hartz IV, durch das ständige Gerede über den Kündigungsschutz und die Aufhebung der Flächentarifverträge, die Erhöhung der Mehrwertsteuer.

Die „Neue Ehrlichkeit“ war also kontraproduktiv?

Mir wäre es lieber gewesen, die Union wäre bei der Spendenaffäre ehrlich gewesen. Die Parole „Hauptsache ehrlich, wenn’s auch falsch ist“ nützt nichts.

Wer könnte in der Union eine Kurskorrektur bewirken?

Es gibt Leute in der Union, die sehen, dass der neoliberale Marktradikalismus am vergangenen Sonntag die Mehrheit verloren hat. Dazu gehört die Mehrheit der CDU in Nordrhein-Westfalen, Jürgen Rüttgers, auch Günther Oettinger aus Baden-Württemberg oder Peter Müller aus dem Saarland. Es gibt sie auch in der CSU. Es wäre besser gelaufen, wenn man mehr auf Horst Seehofer als auf den BDI gehört hätte.

Muss die Union ihr Spitzenpersonal austauschen?

Wer soll da wen ersetzen? Ich wüsste nicht, wie das gehen sollte. Die bisherige Führungsmannschaft hat diesen wirtschaftsliberalen Kurs gemeinsam vertreten. Das kann man nicht allein an der Angela Merkel festmachen. Was die Union braucht, ist eine geistige Erneuerung. Sie muss ein Modell entwickeln, das den globalen Markt ordnet, ohne die Marktwirtschaft abzuschaffen. Wenn junge Leute ein Berufsleben vor sich sehen, das nur aus Minijobs und befristeten Arbeitsverträgen besteht, dann verliert ein 26-Jähriger zwar nicht die Lust am Sex, aber die Lust auf Kinder.

Im Moment wird Machtpolitik betrieben. Wie soll da ein Gesamtkonzept entstehen?

Die Situation birgt eine große Gefahr. Man kann kurzfristig wieder an die Macht kommen, aber sie rasch wieder verlieren, wenn man weiter eine Politik über die Köpfe der Menschen hinweg macht. Trotzdem: Eine Regierung muss gebildet werden.

Zur Not auch eine andere als Schwarz-Gelb-Grün?

Wenn es mit den Grünen nicht klappt, muss die CDU mit der SPD reden.

Mit der Bedingung, dass Merkel Kanzlerin wird – oder könnte es sein, dass Merkel und Schröder beide verzichten?

Das kommt nicht in Frage. Angela Merkel, nicht Schröder hat einen Anspruch auf die Kanzlerschaft. Die Union ist die stärkste Fraktion. INTERVIEW: K. JANSEN