Das Mädchen schluckt Licht

Schluss mit den steilen Prophezeiungen, her mit dem Problembewusstsein! Zum Beispiel: Nur die eigene Triebenergie verleitete die vielen fitten und enorm aufbruchsfreudigen Vierzigjährigen dazu, Angela Merkel Glanz zu verleihen

Seit Mai gaben sich die Medienerzähler dem freien Prophezeien mit einer Hemmungslosigkeit hin, die ans Obszöne grenzte

Allmählich kommen die Medienerzähler wieder runter. Die Kraftakte, wie sich die letzte falsche Prophezeiung durch eine noch steilere toppen ließe – „unter Schwarz-Gelb-Grün wird Fritz Kuhn Wirtschaftsminister!“ –, diese chronische Überanstrengung lässt langsam nach; auch wenn das nach meinem Geschmack schneller gehen könnte, wenn schon keine Reue, dann wenigstens Einsicht. In den dreieinhalb Monaten seit dem 22. Mai gaben sich die Medienerzähler dem freien Prophezeien mit einer Hemmungslosigkeit hin, die ans Obszöne grenzte. Wie sie es darstellten, hatten wir am 18. September die erste Legislaturperiode der Kanzlerin schon hinter uns (in der vor allem der Finanzminister eine höchst problematische Rolle spielte: Wird sie ihn austauschen?).

Also ein bisschen Rückschau und Besinnung. Am Sonntagvormittag besuchte ich nach dem Wählen ein offizielles Frühstück und kam mit einer Kollegin gut ins Gespräch. Um die 40 Jahre alt, auf der Suche nach einer neuen Position – die auch schon in Sicht ist –, mit zentralen Meinungen und Wünschen ihrer eigenen Community unzufrieden. Wie wir alle. Wie es sich gehört. Deshalb arbeiten wir ja dran.

Allerdings fragte sie am Ende, nachdem wir so viele Übereinstimmungen festgestellt hatten, ob auch ich heute zum ersten Mal …? CDU gewählt habe, wollte sie fragen, und ich hatte eine Vision. All diese fitten Vierzigjährigen, in linken und liberalen Milieus aufgewachsen, von dem Handlungsdrang erfüllt, den ihnen ihr Lebensalter auferlegt – sie erwarten von der Bundeskanzlerin Merkel den Ruck, die Wende, die Wandlung. Daran persönlich mitzuwirken, sind sie nur allzu bereit – Schluss mit der deutschen Depression, dem Zuwarten, dem passiven Klagen. Lange haben sie daran arbeiten müssen in ihrem Innern, dass mit der Bundeskanzlerin M. Deutschlands und ihre Chancen am besten zu nutzen wären. Ja, dachte ich, wahrscheinlich hat sie Recht, die fitte Kollegin; warum bildet sich unsereins ein, nur wir könnten die Richtung – und zugleich die Kritik daran – vorgeben? Sollen doch mal die anderen machen …

Schnitt. Am Montagabend gab’s wieder mal einen Abend mit Amerikanern, die Umstände tun nichts zur Sache. Ob er, so der Kollege aus Pittsburgh, PA, eine Frage stellen dürfe? Ob Angela Merkel mit ihrem Programm gescheitert sei, neoliberale Reformen, Rückbau des Wohlfahrtsstaats, Wiederbelebung der USA-Connection? Oder mit ihrer Persönlichkeit? (Das phallische Bravado des Bundeskanzlers am Wahlabend hatte ihn, gerade weil er kein Deutsch verstand, schwer amüsiert.)

An ihrer Persönlichkeit, behaupteten wir flink. Wie soll eine derart basistraurige Frau, einzig vom Pflichtgefühl und der protestantischen Ethik vorwärts bewegt – nachdem sich die Jungs ihrer Partei mit ihren Beißereien gegenseitig vom Feld vertrieben hatten – einen großen politisch-sozialen Aufbruch anführen? (Die fitte Kollegin vom Sonntagvormittag, sie muss sich das – wie das Desaster unmissverständlich lehrt – zusammengeträumt haben, dass ausgerechnet Angela Merkel … Viele müssen sich das zusammengeträumt haben, diese ganze Corona der Vierzigjährigen, die zum Aufbruch drängt.) Der Amerikaner war’s zufrieden. Genau so hatte er die Kandidatin wahrgenommen, das Mädchen, das artig abwartet, bis der Lehrer sie aufruft, um die korrekte Antwort zu erhalten. Eine Person wie Angela Merkel, schloss der Kollege aus Pittsburgh, könnte in den Staaten unmöglich eine politische Karriere verfolgen.

Das ist eine interessante Lektion über Konstruktivismus/Dekonstruktivismus, Manipulationstheorie. Keine Semiose, kein Zeichenprozess, keine Imagemanipulation, keine Wahlkampfstrategie kann aus einem Naturstoff, der dafür ungeeignet ist, die Königin machen, die dann wie aus eigenem Charisma heraus den Sieg erringt. Angela Merkel ist lichtschluckend. Der Glanz, den all die fitten Vierzigjährigen, die endlich aufbrechen wollen, ihr verliehen haben, war eine Projektion von deren eigener Triebenergie.

Ein interessantes Problem. Wie viele andere, die das merkwürdige Wahlergebnis aufwirft. Denen wir uns ausgiebig widmen sollten. Statt uns zur nächsten steilen Prophezeiung zu versteigen. MICHAEL RUTSCHKY