Vielleicht sollte man nach Stuttgart ziehen

LIVE Wucht, Präzision, Virtuosität: All Diese Gewalt geben ein perfektes Konzert im Lido

Sie wirkten wie eine Musterband für nachdenkliche ­Menschen um die 30

Max Rieger sollte es sich noch mal überlegen. Angekündigt sind All Diese Gewalt – nicht zu verwechseln mit der Berliner Band Gewalt, dem Projekt von Patrick Wagner (Surrogat) – nämlich als Soloprojekt. Auf der Bühne des Lido an diesem Montagabend jedoch standen vier gut aussehende junge Männer, die musikalisch wie die russische Eishockeynationalmannschaft der achtziger Jahre agierte: so eingespielt, so aufeinander abgestimmt, auch rein optisch, dass man es mit einer waschechten Band mit sehr, sehr guten Musikern zu tun haben musste. Musiker mit einem Verständnis füreinander. Aber nein, All Diese Gewalt sind offiziell nur Max Rieger – die Namen seiner Musiker herauszufinden gestaltet sich noch als schwierig (Hinweise nimmt die Redaktion dankend entgegen).

Vier junge Männer also mit schicken Instrumenten, die wie frisch gekauft aussahen. Der zweite Gitarrist hat sich für diese Tour extra einen Waldschratbart wachsen lassen, für den er bestimmt fünf Jahre gebraucht hat. Schicke Instrumente, schnieke Hemden, sie sahen einfach gut aus: Der Schlagzeuger, der seine vertrackten Rhythmen lässig aus dem Ärmel schüttelte, trug einen pfiffigen Schnurrbart, das weiße Hemd bis oben hin zugeknöpft, darüber eine überlange Halskette. Mit seiner sixtiesaffinen Frisur sah er ein wenig aus wie Stephen Morris von Joy Division. Was wiederum zur Musik von All Diese Gewalt passte: Immer eine Erinnerung an Post Punk und New Wave, nie pures Epigonentum, wie es zuletzt beispielsweise Klez.e mit The Cure unternahmen. Der Bassist schließlich spielte schon bei der Vorband Levin Goes Lightly (düstere, tanzbare Elektronik), aber ach! genauso als Soloprojekt verzeichnet.

Und da wäre eben noch Max Rieger. Der Sänger der Stuttgarter Formation Die Nerven ist inzwischen nach Leipzig gezogen. Dort kann er nach eigenen Angaben nach Herzenslust Lärm machen; nicht weniger als 180 Stücke, so geht die Sage, hat er für das Debüt seines Soloprojekts geschrieben. Zehn davon haben es auf die Platte „Welt in Klammern“ geschafft. Ein paar weitere auf „Welt in Klammern (Addendum)“, einer Art Erweiterung, wie der Name schon sagt. Und genauso wie alles, was heutzutage sich noch ernsthaft mit deutschen Texten auf Rockmusik auseinandersetzt und zumindest weiß, was die Hamburger Schule einmal war, sind beide auf dem Berliner Label Staatsakt erschienen.

Max Rieger jedenfalls könnte auch ein talentierter Jungschauspieler sein – irgendwo zwischen Tom Schilling, Robert Stadlober und Matthias Schweighöfer. Ein junger Mann mit überbordender Bühnenpräsenz. Der weiß, dass er nicht zuletzt auch beim Rauchen gut aussieht. Und für seinen musikalischen Ausdruck die richtigen Mitstreiter gefunden hat: eine Musterband für nachdenkliche Menschen um die 30. Von denen waren auch reichlich im Publikum – neben den durchaus vorhandenen älteren Semestern. Man fragte sich nur, was die ganz jungen Leute so machen. Oder hören.

Dann wiederum sah die Band sehr deutsch aus in ihrer ausgestellten Hipsterhaftigkeit. Musikalisch aber hatte das, was All Diese Gewalt darboten, Wucht. Wucht, Präzision, Virtuosität. Und immer den Hang zur Theatralik: Auch wenn sie sich gehen lassen wollte, wiederholte sie in Schleifen und Hooks ihre Dringlichkeit. Das musste alles raus, aber möglichst kunstvoll.

Erstaunlich, dass es zurzeit immer wieder gute deutschsprachige Bands und Projekte gibt. Berlin bildet da keineswegs das Zentrum – auch Hamburg nicht. Das Interessante kommt aus Leipzig, aus Stuttgart, aus München (Friends of Gas, Candelilla). Vielleicht sollte man da jetzt hinziehen. René Hamann