Soziale Plastik des Grillens

Europa Wie’s lief? Das Goethe-Institut bat zehn europäische Autorinnen zu Hausbesuchen bei privaten Gastgebern. Nachzulesen in einer Anthologie

„Wer wildfremde Menschen aus einem anderen Land zu sich nach Hause einlädt, kann kein böser Mensch sein, oder?“, fragt David Wagner. Doch was erwartet ihn in einer fremden Wohnung, bei einem Abend in einem unbekannten Freundeskreis? Er probiert es aus, trinkt zunächst in Barcelona, dann in Mannheim mit seinen Gastgebern, schreibt die Erfahrung auf.

Das Goethe-Institut hat das Projekt „Hausbesuch“ initiiert und zehn Autoren aus Portugal, Spanien, Frankreich, Luxemburg, Belgien, Italien und Deutschland zu privaten Gastgebern in verschiedenen Städten geschickt. Sind die Autoren es gewohnt, Lesungen in Büchereien, Cafés oder Instituten zu geben, besuchen sie nun Gartenpartys und Grillabende, führen Diskussionen am Wohnzimmertisch. Ohne Regeln, ohne Pflicht zu lesen, nur um ins Gespräch zu kommen und später darüber zu schreiben.

Ist das die „literarische Begegnung mit einzelnen Lebenswirklichkeiten in Europa“, die es brauche, um für Europa zu begeistern, wie es im Vorwort der daraus entstandenen E-Book-Anthologie heißt? Zumindest sind die Kurzgeschichten persönlich, individuell, subjektiv. Die meisten Autoren lassen ihre ersten Gedanken zum Projekt in die Geschichten einfließen. Beschreiben den Moment, in einer fremden Wohnung mit fremden Leuten auch mal schwerfälliger ins Gespräch zu finden.

Wagners Text ist angenehm unverstellt, nicht bemüht politisch. Eine Art gut formulierter Tagebucheintrag, bei dem er nicht versucht, in jeder Begegnung gleich eine Bedeutung für Europa zu lesen. Er tanzt auf einer Dachterrasse in Spanien, ­kickert in einer Kunstgalerie und hinterfragt seinen Berliner Blick in Mannheim: „Das war mir schon gestern, beim Grillabend aufgefallen, besser gesagt, wurde mir bewusst, dass ich mittlerweile davon ausgehe, ja erwarte, dass jüngere Frauen kein Fleisch essen. Koppelt Berlin mich vielleicht ein bisschen von der größeren Wirklichkeit ab?“ Wagner begreift jeden Abend als „soziale Plastik, eine Installation von Personen, die sich in dieser Konstellation nie wieder sehen werden“.

Auch die italienische Schriftstellerin Michela Murgia begeistert die Idee der Hausbesuche „wie ein Blind Date nach monatelangem Alleinsein“. Hier kann die 45-Jährige auch mal über andere Themen als ihre Bücher sprechen. Sie reist in zwei Städte, die für sie zunächst „Anti-Ziele waren: den Nicht-Ort Frankfurt und den Multi-Ort Marseille“.

Murgia spricht mit ihren Gastgebern unter anderem über Feminismus und das Kinderkriegen. Die Gruppe in Marseille diskutiert zur ihrer Überraschung nicht, warum die anwesenden Frauen persönlich keine Kinder wollen, sondern: „Was ist der Grund dafür, dass es als dermaßen hohes Gut gilt, Kinder zu bekommen, dass es eine Rechtfertigung verlangt, keine zu wollen?“ Während der „Mutterinstinkt in Italien als natürlich gegeben angesehen wird und sein Fehlen als asoziale und pathologische Anomalie“, bezeichnen die jungen Französinnen Kinderkriegen als egoistischen Versuch, sich selbst zu reproduzieren und so den Tod zu überwinden.

Der portugiesische Autor Gonçalo M. Tavares, der auch als „Kafka Portugals“ bezeichnet wird, trifft seine Gesprächspartner in Frankfurt am Main und in Luxemburg, richtig relevant ist das für seine Texte nicht. In der literarischen Verarbeitung seines zweiten Hausbesuchs hat ein Gast die Pest. Also wird sein Stuhl „symbolisch mit einem riesigen, de facto jedoch imaginären, konkret nicht existierenden X als Stuhl, den es bis zum Ende dieses sympathischen Festmahls zu meiden galt“, markiert. Das reale Abendessen in Frankfurt ist vermutlich anders verlaufen. Unterhaltsamer aber ist Tavares’Version. Linda Gerner

Goethe-Institut (Hg.): „Hausbesuch“. Reihe mit 10 E-Book-Singles (je 2,99 Euro) sowie eine alle Texte versammelnde E-Book-Anthologie (4,99 Euro). Frohmann Verlag, Berlin 2017