: „Wir haben alle geweint“
Nach zwölf Jahren trat der Rockmusiker und Star der 89er-Tiananmen-Revolte, Cui Jian, wieder in Peking auf und spielte vor allem für die alten Fans
Die große, noch im stalinistischen Baustil errichtete Hauptstadthalle liegt auf halben Weg zwischen Tiananmen-Platz und Pekings Universität. Vor 16 Jahren radelten die Studenten, die damals für ein paar Wochen den Tiananmen besetzt hatten und mehr Demokratie forderten, hier jeden Tag vorbei. Unter ihnen auch Cui Jian. Er war, neben den Studentenführern, die heute Vorträge an der Harvard-Universität halten, der Superstar der Tiananmen-Revolte von 1989. Doch hielt er keine Reden, sondern spielte Rockmusik. Er sang: „Wir haben nichts“, ein Protestlied mit Woodstock-Flair, und eine ganze Generation sang mit.
An diesem Samstagabend wird Cui Jian das Lied in der Hauptstadthalle wieder singen. Zum ersten Mal seit zwölf Jahren darf er hier rein. Zwölf Jahre Auftrittsverbot vor großem Publikum in Peking sind eine lange Zeit. 16 Jahre Spielverbot in Radio und Fernsehen sind noch länger. Wer singt da noch mit?
Feng Ling bringt Cui Jians Bühnenkleider. Sie ist seine Designerin. Sie trägt lange schwarze Locken, einen grünen Minirock und schwarze Stiefel. Sie sagt: „Cui Jian muss heute für das neue Peking spielen, damit Kunst, Mode und Musik hier ankommen und sich gegenseitig befruchten. Und er muss, wie immer, ein politisches Konzert geben.“ Feng Ling hat hohe Ansprüche. Sie glaubt, dass Cui Jian noch viel bewegen kann. Als könnte 1989 noch ein Nachspiel haben.
Zuo Ge kauft sich vor dem Konzert an einem Stand eine weiße Cui-Jian-Mütze mit rotem Stern und drei rote Bänder, die er um Arme und Stirn bindet. Zuo Ge ist 34 Jahre alt, von Beruf Buchhalter. Um zu erklären, warum er die Bänder umhat, zitiert er Cui Jian: „Eines Tages hast du mit dem roten Tuch meine Augen verbunden, und ich konnte den Himmel nicht mehr sehen.“
Zuo meint, ohne die Farbe Rot könne man Cuis Musik nicht verstehen. Sie stehe für das Geistige und die Leidenschaft zugleich. Das hänge natürlich auch mit der Parteifarbe Rot zusammen. Er gibt zu, dass Cui und seine Generation der Partei damals ihre Farbe geklaut hätten. Und heute? Zuo ist mit vier Freunden gekommen, einer von ihnen ist Arzt, ein anderer, Li Feng, ist Privatunternehmer und besitzt hundert Kosmetikgeschäfte. Li hört Cui Jian meistens beim Fahren von Laden zu Laden in einem Honda Accord. „Damals hatten wir wirklich nichts“, erklärt Li seine Liebe für das alte Lied. Er sagt: „Heute ist ein wunderbarer Tag.“ Li ist erfolgreich, aber er hat nicht vergessen, dass er in einer Diktatur lebt.
Shen Fang ist bereits angetrunken. Er trägt das rote Hemd, das er damals auf dem Tiananmen trug. Darauf stehen Worte Cui Jians: „Du fragst mich, was ich denke. Ich sage dir: Gehen wir gemeinsam los!“ Shen hörte zu, wie Cui Jian auf dem Tiananmen spielte. Er musste sein Studium aufgeben, weil er an der Revolte teilnahm. „Ich wäre ein Mandarin geworden. Jetzt besitze ich eine Fabrik für Motorkolben“, sagt Shen. Er wickelt sich in eine rote Fahne mit dem Konterfei von Cui Jian, der darauf an Che Guevara erinnert.
Xie Ning kommt mit seiner zehnjährigen Tochter. Er ganz in Grau, sie ganz in Rosa. Er ist Rechtsanwalt, arbeitet für große Konzerne. Während des Studiums traf er Cui Jian öfters in der Mensa. Er sagt: „Cui ist Dichter und Philosoph. Er hat meine Sehnsucht nach Gerechtigkeit ausgedrückt.“ Deshalb würde er heute seine Lieder mit der Tochter gemeinsam am Karaokegerät singen. Ob sie das gut findet? „Es geht so“, sagt die Kleine.
Die Halle wird fast voll. Cui Jian spielt drei Stunden, und am nächsten Tag meint Zuo Ge: „Wir haben alle geweint.“ Shen Fang hat seinen Rausch ausgeschlaufen: „Na ja, es ging so. Wir haben alle zu viel erlebt“, resümiert er den Abend. GEORG BLUME