: Massen in Nürnberg
Es war ein wunderschöner Sommertag in Nürnberg, von den Nazis einst als „Stadt der Reichsparteitage“ apostrophierte Metropole Frankens. Auf den Spuren der unter Androhung der Ausladung von des Führers Kaffeekränzchen zur Kollaboration gezwungenen Leni Riefenstahl maßen Becki und ich in weit ausholenden Schritten die „Große Straße“ und das „Zeppelinfeld“ auf dem ungenutzten Parteitagsgelände aus – himmlische Ruhe, abseits der wegen des Bardenfestes (einer Art Karneval der akustischen Musik) völlig überfüllten Stadt. In der Kongresshallenruine hielt das Technische Hilfswerk zwischen bemoosten Steinen und zart das Mauerwerk brechenden Birkenbäumchen eine Fahrzeugdurchsicht ab, von der Haupttribüne aus schauten wir einem niedrigklassigen Fußballspiel zu. Der ältere Sohn einer Familie ukrainischer Touristen gab an der Kanzel eine überzeugende Impersonisation Adolf Hitlers und ein paar Jugendliche boten uns Gras an. 1.000 Jahre hätte ich verweilen wollen, doch mussten wir unbedingt zurück in die Innenstadt. Dort sollten später The Klezmatics ein Konzert geben. Bis dato hatte ich mich mit ihren CDs begnügen müssen, insbesondere der zweiten Veröffentlichung „Rhythm + Jews“. Obwohl die Studioaufnahmen vor allem wegen etwas unmotiviert eingestreuter Keyboards bisweilen etwas steril wirken, fesselt die Musik ungemein. Das ist vor allem Lorin Sklambergs betörendem Gesang geschuldet, mit dem er selbst die abgenudeltsten Klezmer-Standards auf eine Weise interpretiert, dass es einem schier das Herz zerreißen will. Das Album selber: Speedfolkeinflüsse, traditionelles, teilweise fast punkige Arrangements und Jazz wechseln einander ab. Glanzstück ist die Eigenkomposition „Honikzaft“, deren von Sklamberg geschriebene jiddische Text vor Sehnsucht, Liebe und Begehren, gerichtet an den Liebhaber, geradezu überquillt, ohne dabei unnötig kitschig zu wirken. In Nürnberg spielten die Klezmatics damals vornehmlich die Stücke des gerade erschienenen Albums „Rise Up!/Shteyt oyf!“, die zum Teil recht deutliche politische Bezugnahmen auf Antisemitismus, Krieg und Terrorismus haben. Mit großer Freude schunkelte das Publikum zu den eingängigen Melodien und ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass das repetitive, mit besonderer Begeisterung aufgenommene sheymt oykh (schämt euch) durchaus auch auf diese Massen anwendbar war. Vielleicht meinte die Band das gar nicht so, in welchem Falle ich behaupten würde, dass an diesem Tag in der „Stadt der Reichsparteitage“ mal wieder ein Werk klüger als der Künstler war. The Klezmatics spielen am Montag, 21 Uhr, im Kesselhaus der Kulturbrauerei. DANIÉL KRETSCHMAR