: Spritnotstand im Autoland
AUS HOUSTON UND GALVESTONMICHAEL STRECK
Auf seiner Baseballmütze ist der Spruch „Don’t mess with the US“ eingestickt. Leg dich nicht mit den USA an. Doch Paul Carpenters Glaube an Amerika ist erschüttert. Am Samstagnachmittag, wenige Stunden nach dem Sturm, steht er in einer dunklen Bar von Galveston, trinkt ein warmes Bier und fragt immer wieder, wie es sein kann, dass es im reichsten Land der Welt kein Benzin gibt. Carpenter ist 66 Jahre alt, rüstig, trägt Jeans und Stiefel, ein Texaner, der sonst nicht viel redet, aber nun seinem Frust Luft macht. Er habe ja schon so einige Dinge erlebt. „Doch kein Benzin ist ein Skandal.“
Der Cabana Club ist eine Spelunke. Dreckig, streng riechend, schwül. Das Holz, aus dem die Wände gezimmert sind, sieht morsch aus. Zwei Dutzend Männer stehen am Tresen, meist zwielichtige Gestalten und eben Carpenter und sein Freund Antony Palmer. Es ist der einzig geöffnete Laden weit und breit. In Galveston, dem Ort am Meer südlich der Millionenstadt Houston, prophezeiten Meteorologen eine Sturmflut, einen zweiten Untergang wie damals im Jahre 1900, als die Stadt von einem Hurrikan weggefegt wurde. „Katrina“, der Hurrikan, durch den in Louisiana und Mississippi mehr als 1.000 Menschen starben, ließ dieses Szenario real erscheinen.
Die Katastrophe blieb aus. Der Sturm drehte nach Osten ab. Aber Galveston ist nach wie vor vor allem von streunenden Hunden bevölkert. Seine 60.000 Einwohner, die vergangene Woche evakuiert wurden, sind noch nicht zurückkehrt. Die Armee, die mit schwerem Räumgerät in die Stadt eingerückt war, zieht wieder ab. Arbeiter der Energie- und Telefonfirmen rücken dafür ein. Die Polizei bemüht sich, Präsenz zu zeigen. Carpenter erzählt, dass er trotzdem Leute beim Einbrechen beobachtet hat. „Wenn jemand es gewagt hätte, bei mir einzusteigen, hätte er in den Lauf meines Gewehres geblickt.“
Alle Unbequemlichkeiten, die der Sturm mit sich brachte, wie Strom- und Wasserausfall und geschlossene Geschäfte, wiegen jedoch nichts im Vergleich zum Benzinnotstand. Wenn es um dieses Thema geht, verstehen Amerikaner keinen Spaß mehr. Für Antony Palmer kulminiert das Desaster in einem einzigen Satz: „Fuck Bush!“ Irgendwie ist ein Präsident verdächtig, dessen Familie ein Vermögen im Ölgeschäft machte, der beste Beziehungen zur Energiewirtschaft und den Saudis pflegt. Bush wird, so absurd es ist, persönlich für die Knappheit verantwortlich gemacht.
Der Lebenssaft wird zwar bald wieder fließen, aber die beiden Männer in der Spelunke fürchten noch höhere Preise an den Tankstellen. Sie meinen, dass die Regierung in Washington bei den Ölfirmen intervenieren sollte, zum Beispiel ihnen hohe Strafen aufbrummen, um die hohen Benzinpreise, teilweise bis zu sechs Dollar in der Region, zu stoppen. Dieses ist in Galveston immer wieder zu hören. Es ist eine bemerkenswerte Haltung, widerspricht sie doch einer grundlegenden Philosophie vieler Amerikaner und besonders Texaner, dass sich die Bundesregierung nicht in wirtschaftliche Belange einzumischen habe. Auf einmal wird staatliche Regulierung selbst unter Konservativen nicht mehr verdammt.
Einige Straßen entfernt vom Cabana Club sitzen zwei Männer auf der Treppe eines soliden Backsteingebäudes und grillen Hühnerschenkel. Müll liegt mit Ästen verwirbelt auf dem Asphalt. Alle 35 Einwohner des Hauses haben die Stadt verlassen, erzählt Besitzer Pete Rodriquez. „Außer uns natürlich“, sagt er und lacht schelmisch. Die Polizei tauchte mehrmals auf, drängte sie zu gehen, vermied jedoch körperlichen Zwang. „Sie hätten mich schon wegtragen müssen.“ Dennoch glaubt auch er, dass die Stadtverwaltung richtig entschieden habe, die vollständige Evakuierung anzuordnen. Nach „Katrina“ habe man das Schlimmste befürchten müssen.
Das Gleiche galt für die Großstadt Houston, in der die Einwohner mit einer viel größeren Wucht von „Rita“ gerechnet hatten und rund zwei Millionen Menschen hastig das Weite suchten. Am Freitag, als sich der Sturm der Geisterstadt näherte, ahnte niemand, dass sie so glimpflich davonkommen würde. Die Highways waren leer, ein bizarres Bild in einer Stadt, die auch an Sonntagen nur stockenden Verkehr kennt. Nicht ein einziges Geschäft war geöffnet.
In der erwartungsvollen Stille dieses Freitags schiebt ein obdachloser Mann seinen bepackten Einkaufswagen durch die Innenstadt. Moses sein Name. Er weiß nicht, wo er Unterschlupf finden kann. Nein, von städtischen Notbehausungen hat er nichts gehört. Vielleicht zieht es ihn unter die Autobahnbrücke einige Straßenblöcke weiter. Hier suchen bereits Dutzende Menschen Schutz, stapeln sich Plastiksäcke, Abfall und Decken.
Manche von ihnen trauen sich zeitweilig sogar ins nur einen Steinwurf entfernte Hilton-Hotel, wo die Wohlhabenden absteigen, um den Sturm abzuwarten. Ein Kellner, der erst vor wenigen Monaten aus Kenia hierher gekommen ist, bietet seine ganz eigene Perspektive darauf, wie Amerika mit Naturgewalten umgeht und dabei von Europäern gerne ob seiner Nachlässigkeit mitleidig belächelt wird. Hier wissen die Leute lange vorher, dass ein Sturm sie treffen wird, und man kann sich vorbereiten, sagt er nüchtern. „Welch ein riesiger Vorteil.“ In seiner Heimat schlägt die Natur immer unerwartet zu. Anders ein Kaufmann aus Bangladesch, wo Taifune und Fluten zum Alltag gehören. Er ist für ein Geschäftstreffen nach Houston gekommen. Nun hängt er fest. Seine Partner sind geflohen. Er kann noch nicht einmal einkaufen. Und versteht die ganze Aufregung nicht.
Lokale TV- und Radiostationen verbreiteten dann die sensationelle Nachricht, dass ein Supermarkt in einem Vorort geöffnet sei. Binnen Minuten ist der Laden umringt von Menschen. An der Glastür hängt ein Schild: „24 Stunden geöffnet“. Fehlanzeige. Empört rufen manche bei den Sendern an. Viele sind unentschlossen, ob sie noch warten oder gehen sollen. Zu dringend brauchen sie Wasser oder Batterien.
Marlene Stevens will noch rasch etwas zum Abdichten für die Fenster kaufen. Eigentlich hat sie versucht, sich nach Dallas zu retten. Sechs Stunden hat sie mit ihrer 16 Jahre alten Tochter im Stau gestanden. Dann sind sie doch noch umgekehrt. „Wir sind in Houston, nicht weil wir es unbedingt wollten, sondern weil wir nicht aus der Stadt rauskamen.“ Ihr bleibt nichts, als ihr Haus sturmfest zu machen und die wichtigsten Sachen in die Mitte des Wohnzimmers zu bringen, den sichersten Ort, wie sie sagt.
Eine andere Frau versteht an diesem Freitag vor dem Sturm nicht, warum die Stadtverwaltung keine öffentlichen Notunterkünfte eingerichtet hat. Dort, gemeinsam mit anderen, würde sie sich sicherer fühlen als allein zu Hause. Es sei eine Ironie, dass ausgerechnet Houston, das so schnell Flüchtlingen aus New Orleans geholfen habe, sich weitaus weniger um seine eigenen Bewohner kümmere. „Das Einzige, was dem Bürgermeister einfiel, war: Seht zu, dass ihr abhaut!“
Casy und Devin Sheridian wollen sich den nervtötenden Stress im Stau ersparen. Das afroamerikanische Paar ist ins Hilton gezogen und sitzt nun in der Hotelbar. Im Fernsehen läuft nonstop der Wetterbericht. „Rita“ drängt dort gegen die Küste. Sie fürchten, dass ihr neues Haus südlich von Houston dem Sturm nicht standhält. Erst vor vier Wochen waren sie vor „Katrina“ aus New Orleans geflohen, wo sie im French Quarter wohnten. Doch zurück wollen sie nicht mehr. Sie sind verärgert über die korrupte, unfähige Stadtregierung und einen Bürgermeister, der George Bush für alles Unheil verantwortlich macht, das eigene Versagen beim Katastrophenschutz jedoch gern verschweigt. Hart gehen sie mit ihren eigenen „Schwestern und Brüdern“ in der Kommunalverwaltung ins Gericht, die New Orleans heruntergewirtschaftet hätten. Die Tragödie der Stadt hat für sie nichts mit Rassismus zu tun. „Es ist ein Armutsproblem“, sagt er. Sie nickt und fügt hinzu, dass sich Schwarze viel zu oft als Opfer darstellen. „Das ist bequem.“
Am nächsten Morgen packen die Sheridians ihren Geländewagen. Sie sind gut gelaunt. Ein Nachbar hat angerufen. Ihr Haus hat dem „Herbststurm“, wie er „Rita“ nun nennt, widerstanden. Auf die Anweisungen des Gouverneurs von Texas, noch nicht heimzukehren, um den Albtraum auf den Autobahnen nicht zu wiederholen, pfeifen sie. Und während auf den Bildschirmen in der Hotellobby schon wieder Baseball gezeigt wird, dürfte die Flucht für zwei Millionen erleichterte Menschen dort enden, wo sie auch begann: im Stau.