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Archiv-Artikel

»JA! FRAUEN KÖNNEN DENKEN!«

VON RANGA YOGESHWAR Der Physiker Ranga Yogeshwar über Forscher, Vorurteile und eine schimmlige Sammlung von „National Geographic“-Heften

Große weiße Männer im Anzug mit Krawatte und Tropenhelm posieren vor halbnackten Eingeborenen. Mal sind es die schwülen Urwälder Amazoniens, mal ein verlassener Tempel auf Sumatra, oder die Szene spielt sich an einer heiligen Flussmündung im hügeligen Nordindien ab. Die fast intakte Sammlung des National Geographic Magazines aus den zwanziger Jahren, ein Nachlass meiner Tante, ist für mich ein Lehrbeispiel dafür, dass Wissenschaft keinesfalls neutral und wertfrei ist.

Immer wieder ging es zwar in den illustrierten Artikeln um das Erforschen unbekannter Regionen, doch mich interessierte zunehmend nicht, was da erforscht wurde, sondern wie: Der damalige Zeitgeist, die Moden, dogmatische Annahmen und Vorurteile färbten unbemerkt die Brille, mit der unsere Vorfahren die Welt betrachteten, und daran hat sich bis heute wenig verändert.

Geradezu entlarvend ist die Wissenschaftsgeschichte vom Unterschied zwischen Mann und Frau. Noch um 1900 galt der (weiße) Mann als „Krone der Schöpfung“. Charles Darwin war überzeugt, dass Frauen minderwertig seien, und suchte allerlei „wissenschaftliche Belege“ für seine Hypothesen. So waren Frauen angeblich geschützter vor dem Druck der evolutionären Selektion, wohingegen sich der natürliche Selektionsprozess bei Männern stärker offenbarte. Kein Wunder also, dass Männer als weiter entwickelt und intelligenter galten.

In einer Zeit, in der schwarze Menschen im Zoo neben den Gorillakäfigen ausgestellt wurden, unterteilte man Männer und Frauen sogar in unterschiedliche „psychologische Spezies“: Die Frau gehörte zum homo parietalis, der Mann hingegen zum homo frontalis. Das „Heimchen am Herd“ unterlag, wie nicht anders zu erwarten, dem kühlen männlichen Geist, und der hochgeschätzte französische Anthropologe Paul Broca konnte gleich mit zahlreichen Messungen belegen, dass das männliche Gehirn schwerer wog als die weibliche Variante, und hegte keinerlei Zweifel daran, dass es einen logischen Zusammenhang zwischen Gehirnmasse und Intelligenz geben musste. Einige Jahre später, 1895, schrieb der Wissenschaftler Gustave Le Bon „… Frauen … repräsentieren die minderwertigste Form der menschlichen Evolution und sind Meister in ihrer Inkonsistenz, der Unfähigkeit zur Überlegung, dem Fehlen von Logik und Vernunft …“ Die Wissenschaft hatte sich mit zahlreichen Studien zum willigen Sklaven des herrschenden Weltbilds gemacht. Jahrelang ging man in der Biologie davon aus, dass die Eizelle völlig passiv darauf wartet, von den Spermien des Mannes erobert zu werden. Der Wettlauf der Spermien lag jahrzehntelang im Fokus der genaueren wissenschaftlichen Betrachtung. Im Märchen erweckt der Prinz Schneewittchen aus dem Tiefschlaf, warum sollte es da im mikrobiologischen Kosmos der Befruchtung anders ablaufen? Es sollte schmerzlich lange dauern, bis endlich auch die aktive Rolle des weiblichen Organismus in den Laboren untersucht und erkannt wurde.

Vorurteile prägen wissenschaftliche Theorien und schleichen sich bis tief hinab in die Methodik und Logik unseres Denkens und gefährlicher noch, sie prägen unser Bewusstsein. Die „Minderwertigkeit der Frau“ hält sich bis in unsere Tage. So sind junge Mädchen oft davon überzeugt, dass sie keine guten Mathematikerinnen oder Physikerinnen sind, und begründen dieses nicht etwa mit ihrer Leistung, sondern mit dem Vorurteil an sich. „Das kann ich nicht, weil ich eine Frau bin!!“

Der abwertende Ausruf „Frauen und Technik!“ verursacht einen immensen Schaden im Bewusstsein kluger Schülerinnen, denn auf stille Weise lösen sich vielversprechende Berufsoptionen auf, obwohl unzählige vergleichende Studien klipp und klar belegen, dass junge Mädchen eine ebenso gute naturwissenschaftliche Begabung besitzen wie gleichaltrige Jungen. Das Vorurteil siegt immer noch. In Physikvorlesungen sind junge Frauen die Ausnahme. Ist es nicht absurd? Unsere Nation beklagt ein Nachwuchsproblem in den naturwissenschaftlichen Disziplinen, doch würden genauso viele Frauen hierzulande Physik oder Informatik studieren wie Männer, wäre das Problem des Fachkräftemangels im Nu gelöst. Noch immer schleppen wir die Vorurteilsdämonen der Vergangenheit mit uns herum und lachen über Blondinenwitze. Zumindest die Naturwissenschaft hat inzwischen gelernt.

Die Biologie von Mann und Frau wurde immerhin gründlich revidiert, und dennoch stammen die Ansichten zu vieler von uns noch immer aus dem Zeitalter von Darwin und Broca. Dass es im Jahr 2012 noch immer notwendig ist, mit dem Instrument einer Frauenquote auf eine längst fällige Gleichstellung zu pochen, ist ein Armutszeugnis unserer doch so aufgeklärten Gesellschaft.

Ja, Frauen können denken! In einigen Jahren wird wieder eine Tante sterben und einem glücklichen Nachfolger einen Stapel Zeitschriften aus unserer Zeit vererben. Und bei der Durchsicht wird deutlich werden, wie absurd die Menschen um 2012 dachten, als Frauen noch immer auf ein selbstverständliches Recht pochen mussten. Meine Sammlung des National Geographic musste ich inzwischen entsorgen: Sie roch nach Schimmel!

Ranga Yogeshwar, 53, ist Physiker, Autor und Wissenschaftsjournalist. Der Sohn einer Luxemburgerin und eines Inders hat Antennen für Klischees. Dass es anno 2012 in Deutschland noch immer keine Gleichstellung im Berufsleben gibt, hält der Vater von drei Töchtern und einem Sohn für einen Anachronismus.