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Produktive Sehstörung

StreetArt Erst verfolgt und weggeätzt, jetzt gefeiert: Das Ludwig Forum für Internationale Kunst würdigt das Lebenswerk des grandiosen Aachener Wandmalers Klaus Paier. Dessen plakativer Expressionismus prägte die Stadt in den 80ern auf vielen Mauern

Der 9. November 1989 war ein geschichtsträchtiger Tag. Zum Beispiel in Berlin, bekanntermaßen. Und ein kleines bisschen auch in Aachen: In der Nacht auf den Freitag, als die Mauer aufging, hatte der „Aachener Wandmaler“, der zwölf Jahren lang immer autonom mit seinen Farbeimern unterwegs war, tatsächlich so was wie eine Auftragsarbeit angenommen. Im Bunker Junkerstraße sollte zwei Tage später die Vernissage der Kunstausstellung „Deserteure – Besudelt möchte ich nicht überleben“ stattfinden, initiiert von Aachener Friedensaktivisten.

„… dann gibt es nur eins: Sagt Nein!“

Der damals 44-Jährige, dessen wirklichen Namen Klaus Paier seinerzeit nur wenige Eingeweihte kannten, baute eine große Leiter auf, kraxelte auf den Bunkereingang, malte eine seiner typischen kantigen Figuren auf das alte Gemäuer und pinselte dazu den Imperativ von Wolfgang Borchert „… dann gibt es nur eins: Sagt Nein!“ Es war sein letztes von rund 50 großflächigen Bildern in Aachens Stadtbild. Paier war gerade nach Köln gezogen, wo er vereinzelt weitermalte.

Geblieben ist nicht viel von den farbigen Anklagen gegen Atomnutzung, Krieg, Autoterror und Unterdrückung, dazu manchmal auch konträr zärtliche und sinnierende Bilder. „Das muss weg“ war der Imperativ des sauberen Spießertums unter Federführung des CDU-Oberbürgermeisters Kurt Malangré. Zu provokativ für das tiefschwarze Aachen war diese grellbunte Sympathie mit Außenseitern der Gesellschaft wie Punks, Hausbesetzern, Schwulen (Paier war selbst in der Aktionsgruppe der Aachener Printenschwestern aktiv). Schweinerei, Schmierereien, igitt. Städtische Säuberungstrupps rückten an. Politisch brisant war das Bild zweier Jugendlicher, die wenige Tage vor der Befreiung Aachens (Oktober 1944) noch von Wehrmachtsoldaten hingerichtet wurden, weil sie angeblich ein Brot gestohlen hatten.

„Die Stadt ist mein Museum“, hat Autodidakt Paier, der 2009 an Leukämie starb, mal gesagt. Jetzt ist er selbst im Museum: Das renommierte Ludwig Forum für Internationale Kunst in Aachen zeigt 40 Fotografien seiner Werke und erstmals Skizzen, die sein Bruder Thomas Paier (aus insgesamt mehr als 10.000 Dokumenten) zur Verfügung gestellt hat. „Optische Schreie“ heißt die Werkschau, kuratiert von Marlen Lien­kamp und Benjamin Dodenhoff. Dazu eine Diashow vieler anderer Bilder, die den Zeitzeugen von damals eine Zeitreise mit Herzklopfen bescheren. Und es läuft ein schön groteskes Video aus dem Jahr 1984, in dem man den Paier in langem Wollmantel, verkleidet mit Schlapphut und Hexennase, durch die Stadt laufen sieht und ihn mit verzerrten Sound erklären hört. Das unterstreicht die optischen Schreie akustisch. Einmal fällt der Satz: „Ein Museum selbst ist schon Zensur.“

Man freute sich, man ging schnell gucken

Paier prägte mit seinem plakativen Expressionismus in den 80ern tatsächlich mauerweise die Aachener Stadtlandschaft. Wenn wieder ein neues Bild entstanden war, sprach sich das schnell herum. Man freute sich, ging schnell gucken. Olaf Müller, der heutige Leiter der Verwaltung Kulturbetrieb der Stadt, erinnert sich an seine ersten Studientage 1981: „Wenn man durch Aachen ging, stand man immer wieder vor so einer sprechenden Mauer“, die bei ihm eine „produktive Sehstörung“ auslöste. Und trotz aller „ästhetischen Sprengkraft“ immer wieder „auch zum Lächeln anregte“. Heute wisse man, so Müller, das war schlicht „große Kunst“.

Man lernt, dass Paiers Arbeit nicht spontan, sondern strategisch war. Der Diplom-Physiker suchte immer nach inspirierenden Gemäuern inmitten einer passenden Architektur: Welche Mauer schreit nach Bemalung? Er fotografierte sie. Dann dachte er über provokante Motive nach. Er machte Entwurfszeichnungen. Er rückte nachts an, grundierte die Fläche und legte feine Vorzeichnungen an. Um in einer der folgenden Nächte seine Dis­persionsfarben aufzutragen, stets mit einem Aufpasser. Tags darauf dokumentierte er sein Werk mit der Kamera, manchmal auch die Vernichtung durch die Stadt. Erwischt wurde „der Rebell der Nacht“ erst später einmal in Köln, wie sein Bruder jetzt berichtete. Das Verfahren wurde eingestellt.

Zwölf Bilder existieren noch, manche nur stückweise, andere sind arg verblichen. Vor ein paar Jahren hat Aachens Ex-OB Malangré mit altersweiser Selbstkritik die emsigen Säuberungen als Fehler bezeichnet. Da war Paier schon tot. Malangré entschuldigte sich und fragte mit schlechtem Gewissen beim Landeskonservator um Rat. Ergebnis: Drei Werke stehen heute unter Denkmalschutz.

Die Maueröffnung hatten wir damals am Deserteure-Bunker übrigens alle erst am nächsten Tag mitgekriegt. Diese Aachener Mauer mahnt dafür bis heute.

Bernd Müllender

Bis 1. Oktober, Ludwig Forum Aachen

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