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Archiv-Artikel

„Gewalt gegen Kinder nimmt zu“

Das Risiko von Kindesmisshandlungen nimmt zu, wenn Vater oder Mutter selbst als Kind misshandelt wurden, sagt Sabine Walther vom Landesverband des Kinderschutzbundes

taz: Frau Walter, ist der Eindruck richtig, dass in Berlin vermehrt Säuglinge misshandelt werden?

Sabine Walther: Dieser Eindruck drängt sich auf. 2005 sind auffallend häufig solche Fälle bekannt geworden.

2001 sind in Berlin 267 Fälle von Kindesmisshandlung zur Anzeige gekommen. 2004 waren es 398. Worauf ist die Zunahme zurückzuführen?

Da kann ich nur Vermutungen anstellen. Die Dunkelziffer bei Kindesmisshandlungen ist ja sehr groß …

der Kripo zufolge ist sie noch höher als bei sexuellem Kindesmissbrauch, wo von sechs bis 20 unentdeckten Taten pro angezeigtem Fall ausgegangen wird.

Die Zunahme der angezeigten Taten ist ganz sicher auch auf die die gute Öffentlichkeitsarbeit der Polizei zurückzuführen. Da gibt es zum Bespiel die Plakataktion mit einer Babyflasche vor einem Grab: „Geboren, gequält, gestorben“. Diese Aktion hat Früchte getragen.

Die Polizei sagt, sie sei diejenige, die am meisten Fälle aufdecke. Die Nachbarschaft guckt eher weg?

Es gibt solche und solche Leute. Ich höre auch immer wieder von Leuten, die sich Sorgen um die Kinder in ihrer Umgebung gemacht haben, aber bei den Ämtern abgeprallt sind. Natürlich gibt es auch immer wieder Fälle, wo man sich fragt: Warum haben die Nachbarn nicht reagiert.

Können Sie ein Beispiel nennen?

In Frankfurt (Oder) sind zwei kleine Kinder in einer Wohnung jämmerlich verdurstet. Sie müssen tagelang geweint und geschrien haben, aber keiner will etwas gemerkt haben. In Berlin hat es einen ähnlichen Fall gegeben.

Wartet das Jugendamt zu lange, bevor es Kinder aus einer Familie nimmt?

Diesen Vorwurf kann man nicht pauschal erheben. Es gibt umsichtige und weniger umsichtige Sozialarbeiter. Bis ein Kind in ein Heim eingewiesen werden kann, ist aber mittlerweile ein hoher bürokratischer Aufwand nötig. Das macht das Ganze nicht einfacher.

Gibt es einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Armut, Kindesvernachlässigung und Gewalt?

Auf jeden Fall. Arme Leute sind oftmals ungebildeter, wohnen beengter und sind aufgrund von Existenzängsten gestresster. Damit will ich aber nicht sagen, dass das eine Gesetzmäßigkeit ist. Es gibt ganz viele arme Leute, die ihre Kinder über alles lieben und sich für sie alles vom Munde absparen. Fakt ist, dass das Risiko von Kindesmisshandlung größer wird, wenn Vater oder Mutter selbst als Kind misshandelt worden sind.

Berlin liegt bundesweit an der Spitze, was Kindesmisshandlungen angeht. Was heißt das für die Zukunft?

Berlin hat bundesweit am meisten arme Kinder. Wenn das so bleibt, oder gar noch schlimmer wird, wird es noch mehr Gewalt gegen Kinder geben. Vernachlässigung ist auch Gewalt.

Was sind die zentralen Forderungen des Kinderschutzbundes?

Dass es wohnortnah niedrigschwellige Anlaufmöglichkeiten für Familien gibt, in denen man sich notfalls auch anonym melden kann. Arme und gestresste Eltern, die ihr Kind nicht gut behandeln, sind oft isoliert. Gerade solche Einrichtungen sind aber zunehmend von Sparmaßnahmen betroffen. Auch die professionellen Einrichtungen müssen mehr hingucken. Die Kita-Erzieherin ist da genauso gefordert, wie der Hausarzt und die Lehrerin. Das beste ist natürlich eine intakte Nachbarschaft, die sich gegenseitig unterstützt; wo Eltern nicht Angst haben müssen, dass sich alle vom Kindergeschrei gestört fühlen.

Interview: Plutonia Plarre