: Orte der Angst – nah und doch ganz fern
BESCHUSS Unter Palästinensern und Israelis wächst die Furcht vor neuen Angriffen. Vor den Parlamentswahlen im Januar präsentieren sich Israels Regierungschef Netanjahu und Verteidigungsminister Barak als Garanten der Sicherheit
■ Bewohner: 1,6 Millionen Menschen leben gedrängt auf diesem Stückchen Land. Mit über 480.000 Bewohnern ist Gaza-Stadt der größte Ort der Region.
■ Fläche: Gaza zieht sich als Streifen (nicht mehr als 6 bis 10 Kilometer breit) über 45 Kilometer entlang der Mittelmeerküste.
■ Grenzen: Im Nord- und Südosten liegt Israel, im Südwesten Ägyptens Sinai-Halbinsel.
■ Geschichte: Ab 1949 stand Gaza unter ägyptischer Verwaltung, später wurde Gaza häufig von israelischen Truppen besetzt. Seit 1994 ist der Gazastreifen palästinensisches Autonomiegebiet. 2005 zogen sich die letzten israelischen Siedler zurück. Gaza ist Sitz der Palästinensischen Autonomiebehörde. Seit 2007 kontrollieren die radikalislamischen Hamas den Gazastreifen, nicht aber das Westjordanland. (afp, taz)
AUS TEL AVIV UND JERUSALEM SUSANNE KNAUL UND KLAUS HILLENBRAND
„Wie kann es sein, dass mitten in der Nacht ein Kampfflieger Bomben auf Wohnhäuser abwirft“, schimpft Majeda As-Saqqa, Sozialarbeiterin in Gaza. Am frühen Morgen sei eine Kollegin von ihr lebensgefährlich verletzt worden, während sie das Frühstück zubereitete. As-Saqqa lebt zusammen mit ihren Eltern, Schwestern und deren Kindern, die zwischen neun und zwölf Jahre alt sind. „Die Kinder haben den Krieg vor vier Jahren erlebt“, sagt sie. „Jetzt kommen die Erinnerungen an die Schrecken wieder zurück.“
1.400 Palästinenser starben in jener Zeit bei der Operation „Gegossenes Blei“. Anders als damals können sich die Bewohner heute mit Lebensmitteln und anderen Dingen versorgen, weil Ägypten den Grenzübergang öffnete. „Heute früh kamen außerdem sechs Busse mit ägyptischen Freiheitskämpfern, die uns ihre Solidarität demonstrieren wollen.“ Auf den Märkten gibt es ausreichend Ware, berichtet As-Saqqa, „nur die Bargeld-Automaten der Banken funktionieren nicht mehr“. Die Stromversorgung war schon vor dem Krieg dürftig und unregelmäßig. Je nach Wohnort geht der Strom im Sechs- bis Achtstundentakt an und wieder aus.
Das Schlimmste sei die Angst, meint As-Saqqa, „allein letzte Nacht sind vier Kinder und zwei Frauen bei den Luftangriffen ums Leben gekommen“. Die Sozialarbeiter versuchen nun per Telefon und per Internet zu helfen, wo sie können. Die Leute sind sich einig, dass „die Besatzer für die Gewalt verantwortlich sind und nicht unsere Freiheitskämpfer“.
Rund siebzig Kilometer weiter, in Tel Aviv, macht sich derweil eine seltsame Routine breit. Vier Tage lang hat es täglich je einen bis zwei Raketenangriffe gegeben. Anfänglich wussten viele Leute nicht, wie sie auf die heulenden Sirenen reagieren sollten. Auf der Stadtautobahn hielten die Menschen ihre Wagen an und suchten hinter den Karosserien Schutz. Beim ersten Heulen der Sirenen eilten Badende vom Strand weg zu den Hochhäusern der City. Von einem „surrealistischen Erlebnis“ berichtet die Tel Aviverin Ori Winter, die sich in ein Treppenhaus rettete, über die „schicksalhaften Minuten, die man mit völlig fremden Menschen verbringt“.
Inzwischen hat die Stadt die öffentlichen Bunker geöffnet, die Medien verbreiten Verhaltensregeln: 90 Sekunden bleiben von der Warnung bis zum Einschlag Zeit, um Schutz vor den Raketen zu suchen. Seit dem Wochenende fängt das Raketenabwehrsystem „Eisenkuppel“ mit großer Treffsicherheit die aus Gaza abgefeuerten Geschosse noch in der Luft ab.
In Tel Aviv, die Stadt des Hedonismus, der Ausgelassenheit und der Lebensfreunde, machen keine Kneipen zu, weil zum ersten Mal seit 21 Jahren Raketenalarm besteht. Den Tel Avivis scheint das Elend in Gaza Tausende Kilometer entfernt. Doch die Raketen erinnern daran,wie nahe beide Orte sich in Wahrheit sind.
Militärisch hätten die ersten Tage der Operation für Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und Verteidigungsminister Ehud Barak kaum besser laufen können: Ein Beifallssturm ging durch sämtliche großen Parteien, als am vergangenen Mittwochabend die gezielte Exekution des De-facto-Hamas-Militärchefs Ahmed Al-Dschabari bekannt wurde. 91 Prozent der Bevölkerung, so zeigt eine vom Fernsehsender „Channel 10“ in Auftrag gegebene Umfrage am Wochenende, befürworten den Beginn der Operation.
41 Prozent halten Netanjahu für den richtigen Mann in Sicherheitsfragen. Immerhin 18 Prozent würden Barak in Krisensituationen ihr Vertrauen schenken. Noch vor einer Woche sagten ihm Umfragen ein Scheitern an der Zweiprozenthürde voraus. Das politische Aus schien ihm und seiner Minipartei „Unabhängigkeit“ bei den Parlamentswahlen im Januar fast sicher.
Die Erfahrung lässt ihn hoffen. Vor vier Jahren kommandierte Barak als Verteidigungsminister in der Regierung Ehud Olmerts die Offensive im Gazastreifen. Damals sagten ihm Umfragen zwischen 6 und 8 Sitze vor dem Krieg voraus. Am Ende wurden es 13. Der einzige, der Netanjahu bei den Wahlen Paroli bieten könnte, ist wohl Ehud Olmert. Der frühere Regierungschef müsste die zahlreichen Parteien der Mitte unter einen Hut bekommen, um gegen das neue Bündnis von Netanjahu und dem rechtskonservativen Außenminister Avigdor Lieberman anzutreten. Am letzten Donnerstag wollte Olmert sein politisches „Comeback“ der Öffentlichkeit kundtun, verschob aber tunlichst den Termin, als die Botschaft vom Tod al-Dschabaris kam. Den Umfragen nach wünschten sich in Kriegszeiten ganze 7 Prozent Olmert an die Regierungsspitze.
Selbst die Chefin der Arbeitspartei, Scheli Jechimowitsch, sonst eine der schärfsten Kritikerinnen Netanjahus, stellte sich hinter den Regierungschef. Sie weiß, dass Volkes Sympathie dem Mann mit harter Hand gehört. Egal, wie sich der Krieg noch entwickelt: Das Thema Sicherheit wird den Wahlkampf bestimmen. Wirtschafts- und Sozialpolitik spielen nun keine Rolle mehr, schon gar nicht die Obdachlosen, die rund um Tel Avivs Busbahnhof übernachten.
In Haifa, im Norden Israels, weit weg von den Raketeneinschlägen der Hamas, aber nahe genug an den Bergen des Libanon, um selbst schon einmal Ziel von Einschlägen der Hisbollah gewesen zu sein, geht das Leben seinen gewohnten Gang. Im Ausgehviertel „German Quarter“, einst von deutschen Pietisten erbaut, sind die Restaurants gut gefüllt, erst recht die arabischen. Die Menschen lachen und plaudern. Aber fast den ganzen Tag und die Nacht hindurch hängt ein Ton in der Luft, der nicht enden will: Es sind die Düsen der von ihren Basen startenden Kampfflugzeuge auf ihrem Weg nach Süden: Richtung Gaza.